Gottfried Keller verbinden viele mit »Der grüne Heinrich«, Literaturwissenschaftler nennen ihn einem Atemzug mit Theodor Fontane. Bis vor wenigen Jahren fristete der »bürgerliche Außenseiter« (Ulrich Kittstein) ein schablonenhaftes Dasein in der Literaturgeschichte. Jetzt wird der große Schriftsteller wiederentdeckt, sein subtiler Sprachwitz gelobt sowie seine Kultur- und Gesellschaftskritik. War nicht schon Walter Benjamin von der Mehrdeutigkeit des Werkes aus dem 19.Jahrhundert fasziniert, als seine Welt den Boden verlor? Anlass genug, sich darüber mit jemanden auszutauschen, die Gottfried Kellers Werk genauer kennt: die Mitherausgeberin der Historisch-Kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe (HKKA) und des Gottfried Keller Handbuches, die Zürcher Literaturprofessorin Ursula Amrein.
Götz Fuchs (wbg): Sehr geehrte Frau Amrein, Gottfried Keller hat eine Zeit in Deutschland gelebt, sich dort stark mit der Kunst und Philosophie auseinandergesetzt. Woher stammte seine Neugier?
Ursula Amrein: Keller wurde mit fünfzehn Jahren von der Schule gewiesen. Er sah sich um seine Bildung betrogen, wollte Maler und dann Dichter werden. Die Universität in Zürich blieb ihm verschlossen. Es gab auch keine Kunstakademie, die seine künstlerischen und intellektuellen Neigungen hätte befriedigen können. Die Schweiz war kulturelle Provinz und so lockten Städte wie München, Heidelberg und Berlin.
Götz Fuchs: Anders als sein Zeitgenosse Theodor Fontane erlebt Gottfried Keller die Verwandlung seiner Heimat zu einem demokratischen Gemeinwesen. Wie spiegelt sich das in seinem Werk wieder?
Ursula Amrein: Passiver Zuschauer war Keller nie. Als Radikal-Liberaler kämpfte er für den Bundesstaat von 1848 und trat mit einem politischen Kampfgedicht zum ersten Mal überhaupt auf den Schauplatz der Literatur. Bis zuletzt verfolgte er die Entwicklung der Schweiz, sei es als angriffiger Publizist oder genau beobachtender Dichter. Im Alter zeigte er sich zunehmend enttäuscht über die an einen expansiven Wirtschaftsliberalismus verratenen Ideale der Republik.
Götz Fuchs: Mitten im romantisch und nationalistisch aufgeladenen Mitteleuropa besucht Gottfried Keller den wenig romantischen und atheistischen Ludwig Feuerbach in Heidelberg. Und er schreibt den „Grünen Heinrich“ um. Warum?
Ursula Amrein: Der „Grüne Heinrich“ ist sozusagen Kellers Lebensprojekt. Im Roman spiegeln sich seine misslungene Karriere als Maler und gleichzeitig auch sein dezidiertes Bekenntnis zum Atheismus. Dazu muss man wissen: Feuerbach war in der Zürcher Emigrantenszene, in der sich Keller in den 1840er Jahren bewegte, der Modephilosoph schlechthin. Darauf reagierte er allergisch. Doch als er in Heidelberg Feuerbachs Vorlesungen besuchte, kam es zu einer radikalen Wende. Keller fand zu einer kompromisslosen Poetik des Diesseits. Auf dieser Basis schrieb er den „Grünen Heinrich“, den er fünfundzwanzig Jahre später nochmals gründlich überarbeite.
Götz Fuchs: Gottfried Keller besaß eine besondere Formulierungskunst. Heute wird viel über das Doppeldeutige seines Schaffens gesprochen. Im Keller-Handbuch und ihren Veranstaltungen zum Jubiläum ging es auch um die Frage, ob Keller „Wegbereiter der Moderne“ war. Sehen wir da nicht zu viel in ihm?
Ursula Amrein: Walter Benjamin hat sehr früh und sehr prägnant auf Kellers Ambiguität hingewiesen, zu einer Zeit, als Keller die simplifizierende Vereinnahmung durch eine antimoderne Heimatliteratur drohte und er als Schweizer Nationaldichter vereinnahmt wurde. Klar ist: „Kellers Ton“ wird bis heute als etwas Besonderes wahrgenommen, er geht nicht auf in der Schematik des programmatischen Realismus. Gerade Benjamins Hinweise auf Kellers Doppeldeutigkeiten und seine hintergründige Melancholie rücken den Autor in die Nähe zu einer Moderne, von der er sich selbst aber explizit distanzierte. Die Erkenntnis, dass Kellers Werk nicht rückwärtsgewandt ist, sondern in die Zukunft weist, ist sehr wichtig. Gleichzeitig aber darf man nicht vergessen, dass er ganz ins 19. Jahrhundert gehört, genauer noch: in jenes „lange“ 19. Jahrhundert, da sich vom Ancien Régime bis zur Gründerzeit mit ihrer imperialen Machtentfaltung erstreckt. Kellers Realismus bloß negativ über die Abgrenzung von der Romantik einerseits, dem Beginn der Moderne andererseits definieren zu wollen, wäre sicher falsch.
Götz Fuchs: Im Geleitwort zur Historisch-Kritischen Ausgabe schreiben die Herausgeber, sie wollten das Werk vor der „Erstarrung in der Klassizität“ bewahren? Wie sind Sie und ihre Kollegen dabei editorisch vorgegangen?
Ursula Amrein: Man kennt Keller vor allem als Verfasser des „Grünen Heinrich“ und der „Leute von Seldwyla“ – darin liegt sozusagen seine „Klassizität“ begründet. Doch er war mehr. Er wollte Maler und später Dramatiker werden, fand erste Anerkennung als Lyriker, schrieb Kunstkritiken und war in der Presse präsent. Die HKKA macht dieses umfangreiche Werk erstmals vollständig und textphilosophisch getreu zugänglich. Hinzu kommen die Materialien aus dem Nachlass, Skizzen, Projektideen oder auch sein ganz spezielles „Traumbuch“. Keller wird damit neu lesbar. Man kann viel Unbekanntes entdecken oder Bekanntes in einem neuen Licht sehen. Es lassen sich Vergleiche zwischen verschiedenen Fassungen anstellen, textgenetische Prozesse verfolgen oder Dokumente zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte studieren.
Götz Fuchs: Nun hat das Jubiläum aus Anlass seines 200jährigen Geburtstages eine weltweite Keller-Renaissance ausgelöst. Warum brauchte es dazu ein Jubiläum?
Ursula Amrein: Keller ist mit Sicherheit kein verkannter Autor. Das war er schon zu Lebzeiten nicht. Aber die Kurswerte von Autoren sind volatil. Ihre Konjunktur ist zeitbedingt. Jubiläen können hier durchaus Akzente setzen. Überschätzen würde ich das allerdings nicht. Die Nachhaltigkeit ist nicht per se garantiert. Das zeigt sich deutlich in der Rezeptionsgeschichte, die das Keller-Handbuch erstmals dokumentiert. Keller wurde seit seinem 100. Geburtstag 1919 immer wieder ausgiebig gefeiert. Bei allem aber hat e mich doch erstaunt und auch befremdet, wie sehr er in den letzten Jahren aus der Diskussion verschwunden ist, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft. Zu hoffen ist, dass das jüngste Jubiläum diesen unglaublich spannenden, dabei aber nicht immer leicht zugänglichen Autor wieder ins Gespräch bringt. Mit der HKKA bestehen dazu die besten Voraussetzungen. Paradoxerweise kann man sagen: Kellers Werk ist bekannt – und trotzdem noch lange nicht ausgelesen!
Über die Beteiligten
Ursula Amrein ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Sie ist Mitherausgeberin der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-ausgabe (HKKA), veröffentlichte mit dem Gottfried Keller-Handbuch das Standardwerk der Keller-Forschung und auch – zusammen mit Michael Andermatt – einen kleinen »Keller zum Vergnügen«.
Götz Fuchs studierte Politik- und Rechtswissenschaft in Frankfurt, Freiburg und Berlin. Magisterarbeit über den Verfassungswandel in Israel. MBA in Augsburg und Pittsburgh/USA. Seit 1998 in der Verlagswelt tätig und seit 2014 für die wbg.