Im Lichte der platonischen Ideenlehre, auf die sich die Frage des „Chorismus“, also der Trennung von Ideenwelt und sinnlicher Erfahrungswelt, bezieht, ist zunächst der Begriff der „Methexis“ und der „Mimesis“ kurz zu erörtern.
Hierbei ist nach Gadamer bedeutend, dass letztlich die „Methexis“ die Teilhabe der Erfahrungswelt an der Ideenwelt beschreibt und damit als Kerngedanke der platonischen Ideenlehre zu verstehen ist. Während die sogenannte „Mimesis“, welche eine Nachahmung beschreibt, also ein "Dasein des Imitierten", so ist eben mit dem Begriff der „Methexis“ auf ein "Mit-Dasein mit etwas" gezielt.
Dieser Gedanke soll verdeutlichen, dass die sinnlichen Erscheinungen an den Ideen teilhaben, aber auch ihr Sein von den Ideen haben.
Aufgrund dessen lässt sich nun die Eingangsfrage des aristotelischen Vorwurfs des radikalen „Chorismus“ erörtern, denn, da sich der Unterschied zwischen Ideenwelt und Erfahrungswelt zeigt, führt es nun zu der Frage, inwieweit diese Welten getrennt sind. Aristoteles hat in diesem Sinne von einer Verdoppelung der Welten zusammen mit einer nicht zu überbrückenden Trennung in Form des radikalen „Chorismus“ gesprochen. Gadamer schreibt hierzu zunächst, dass eine radikale Trennung jener Welten eine „krasse Absurdität“ bedeuten würde.
So weist Gadamer auch gerade auf den platonischen „Parmenides“ hin, in welchem sich zeigt, dass es keine Erkenntnis der Ideen geben könnte, wenn Ideenwelt und Erfahrungswelt voneinander komplett getrennt wären.
Da aber die gesamte Ideenlehre eine Annahme der Ideen voraussetzt, aufgrund dessen, dass alle Ideen letztlich die Ideen der Erscheinungen sind, ist eine radikale Trennung unmöglich.
Es ist zu betonen, dass Aristoteles Platon einen radikalen „Chorismus“ vorwirft, also eine unüberwindbare Trennung der Welten.
Ein „Chorismus“ an sich, also eine Unterscheidung, besteht jedoch zwischen der Ideenwelt und der Welt der Erscheinungen, wobei mit diesem „Chorismus“ keine unüberwindbare Trennungslinie zu verstehen ist. Und gerade in dieser überwindbaren Unterscheidung findet sich letztlich ein Kerngedanke der platonischen Philosophie.
Zum einen ist hier zu beachten, dass die Möglichkeit der Erkenntnis in den Erscheinungen begrenzt ist. Gadamer führt hierzu das platonische Beispiel der mathematischen Scheinbeweise ein, in dem die sinnliche Wahrnehmung den Unterschied zwischen einer Geraden und einem sehr schwach gekrümmten Kreisbogen nicht erkennen muss, obwohl von der Idee her ein Unterschied besteht. Gadamer nennt dieses die "ontologische Unterscheidung des Noetischen vom Sinnlichen", welches zeigt, dass zwar ein Unterschied besteht, aber in dieser Hinsicht als Unterscheidung zur Schaffung von Klarheit und nicht im Sinne einer unüberwindbaren Trennung beider Bereiche.
Die Mathematik zeigt sich auch grundsätzlich für die Erörterung des sinnvollen „Chorismus“ als sehr geeignet. Der Unterschied zwischen Ideal und Erscheinung lässt sich anhand eines Kreises im dem Sinne verdeutlichen, dass ein idealer Kreis als wahrer Gegenstand gedanklich präsent ist, welcher aber als Erscheinung, vielleicht im Sinne einer Zeichnung, nie an jenes Ideal heranreichen kann. Dennoch ist in Gedanken bzw. in der Theorie der ideale Kreis vorhanden. Man kann hier behaupten, dass gerade dieser „Chorismus“ zwischen Ideenwelt und sinnlicher Erscheinungswelt der Mathematik ihren Wahrheitsanspruch bzw. Wahrheitswert verschafft, gleichzeitig jedoch ein radikaler „Chorismus“ unmöglich ist. Diese platonische Lehre, dass jene Ideale den Bereich über den Erscheinungen bilden und diese im Sinne des „Chorismus“ unterschieden werden können, ist nach Gadamer grundlegend für die „moderne mathematische Naturwissenschaft“.
Im Weiteren ist laut Gadamer dieser platonische „Chorismus“, welcher die Annahme der Ideen sowie die Unterscheidung von Ideen und Erscheinungen beschreibt, als ein "integrierendes Moment der platonischen Dialektik" zu sehen. Gerade mit Blick auf die platonische Ablehnung der Sophistik beweist sich der „Chorismus“ als ein sinnvoller Gedanke. So geht es ja Platon um die Aufdeckung von nur scheinender Wahrheit zur Erlangung von wirklicher Wahrheit. Die Bedeutung dieses „Chorismus“ der Wahrheitserschließung kann quasi als Entgegensetzung der sophistischen „Rhetorik“ als Wahrheitsverbergung, also als Kunst der Täuschung, verstanden werden. So zeigt sich hierdurch die wesentliche Bedeutung des „Chorismus“ für die platonische Dialektik.
Darüber hinaus zeigt sich der „Chorismus“ auch in Fragen der Moralität. So ist zwischen der wahren Gerechtigkeit und dem, was lediglich als gerecht gilt, zu unterscheiden. Die Scheidung von tatsächlichen Idealen und Wahrheiten auf der einen Seite und dem Sinnlichen und lediglich Gemeinten auf der anderen Seite, welches auch auf die Konventionen innerhalb einer Gesellschaft oder in dem Sinne auf die öffentliche Meinung zielt, ist eine Form des „Chorismus“. Gadamer sieht letztlich im „Chorismus“ den Gedanken, dass die Schwäche der Sinneserfahrungen aufzudecken ist, welches „alle Verständigung bedroht“, womit man den „Chorismus“ tatsächlich als eine Form der Dialektik verstehen kann.
Gadamer sieht es als erwiesen an, dass der „Chorismus“ niemals als eine unüberbrückbare Trennung zu verstehen ist und weist somit den aristotelischen Vorwurf des radikalen „Chorismus“ zurück.
Trotz der aristotelischen Kritik kann nicht von einem Bruch zwischen der Philosophie Platons und der Philosophie Aristoteles´ gesprochen werden. Im Gegenteil, denn Gadamer sieht eine sogenannte „platonisch-aristotelische Wirkungseinheit“, auf dessen notwendige Erkenntnis er deutlich hinweist. Dass dieses in der neukantianischen Platonauslegung, insbesondere von Paul Natorp, nicht erkannt wurde, kritisiert er. Gadamer bezeichnet auch die Gegenüberstellung von Platon als Idealisten und Aristoteles als Realisten, welches ein neukantianischer Gedanke war, wie jede radikale Trennung beider Philosophen als unproduktiv, um letztlich ein Verständnis für deren philosophischer Lehren zu gewinnen.
Von Thorsten Jacob