Gastbeitrag: "Deutschland - Frankreich 1871-1914" von Klaus-Jürgen Bremm

Am 22. November 2019 zählte ich zu den Teilnehmern einer in der Berliner Urania veranstalteten Podiumsdiskussion über Bedeutung und Folgen des Krieges von 1870/71. Als die Sprache auf den Frankfurter Frieden vom 10. Mai 1871 kam, erklärten meine damaligen Mitdiskutanten, Christopher Clark, Sönke Neitzel und Oliver Haardt unisono, dass Bismarck fraglos einen Fehler begangen habe, als er von Frankreich die Abtretung des Elsass und eines Teils von Lothringen erzwang. Hinter dieser gängigen Einschätzung, deren prominentester Vertreter wohl der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler war, stand und steht ja die Hypothese, dass mit der „territorialen Verstümmelung“ Frankreichs der Weg zu einer späteren Versöhnung beider Nationen, wie er erst nach 1945 beschritten werden konnte, zunächst verbaut gewesen sei. Clark führte an diesem Abend auch das Beispiel des maßvollen Prager Friedens von 1866 an, als Preußen gegenüber dem bei Königgrätz gründlich geschlagenen Habsburgerstaat auf territoriale Forderungen verzichtete, was die spätere Annäherung beider Mächte überhaupt erst ermöglicht habe.

Trotz dieses einhelligen Urteils erlaubte ich mir der Runde zu widersprechen. Mir erschien es 1. zweifelhaft, ob Bismarck im Herbst 1870 überhaupt die Möglichkeit besessen hatte, den von meinen Mitdiskutanten gerügten Fehler zu vermeiden. Der spätere Reichskanzler hätte in diesem Fall gegen die öffentliche Meinung in den deutschen Staaten, gegen die Generale und den Großen Generalstab entscheiden müssen und wäre, hätte er Frankreich tatsächlich schonen wollen, auch auf den entschiedenen Widerstand seines Monarchen gestoßen. Schon 1866 hatte Bismarck nur mit Mühe gegen König Wilhelm eine territoriale Schonung Österreichs durchsetzen können. Einen zweiten Kampf mit seinem Monarchen hätte er wohl nicht für sich entscheiden können, gerade weil sich der politische Ertrag der Prager Mäßigung damals noch nicht hatte einstellen wollen. Wiederholt hatte sich Bismarck während des Krieges gegen Frankreich über Habsburgs anhaltende Feindseligkeit beklagt. Erst nach 1871 änderte Wien auf der Suche nach neuen Alliierten seine ablehnende Haltung gegenüber Preußen-Deutschland, was wohl weniger mit Bismarcks früherer Mäßigung zu tun hatte, sondern in erster Linie seiner wiederholten Absage an sämtliche großdeutschen Ambitionen zu verdanken war. Wen außer Deutschland hätte Habsburg nach 1871 als Alliierten überhaupt in Erwägung ziehen können? Frankreich lag am Boden und war jetzt Republik, mit Russland war man seit dem Krimkrieg 1853/56 über Kreuz und in Großbritannien rümpfte das Establishment sei den Tagen Metternichs die Nase über die Unterdrücker der italienischen Freiheiten.

Darüber hinaus erschien es mir 2. illusorisch zu glauben, dass ein generöser Frankfurter Friede die spätere Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich verhindert oder wenigstens gemildert hätte. Auch ohne die Annexion von Metz und Strassburg wäre das Bismarckreich nach 1871 zur bedeutendsten Industriemacht des Kontinents aufgestiegen. Mit seiner bis 1914 auf 65 Millionen Menschen anwachsenden Bevölkerung hätte Deutschland in jedem Fall für die französische Republik, deren Einwohnerzahl bei 40 Millionen stagnierte, eine ständige Bedrohung dargestellt. Wahrscheinlich hätte sogar ein im Besitz seiner alten Ostgrenze verbliebenes Frankreich – vermutlich unter einem Präsidenten Georges Boulanger - mit seiner inzwischen nach preußischem Vorbild reorganisierten Armee in den 1880-iger Jahren den von Bismarck befürchteten Revanchekrieg geführt.

Der entscheidende Punkt scheint mir jedoch zu sein, dass 3. die Bedeutung des Frankfurter Friedens für die spätere Politik beider Mächte oft stark überschätzt wird. Eine direkte Linie vom „Frankfurter Diktatfrieden“ zur Katastrophe von 1914, wie sie Wehler wiederholt behauptet hatte, ist bei genauerer Betrachtung gar nicht auszumachen. Spätestens seit 1890 mussten Frankreich und Deutschland unter den Bedingungen einer sich rasch entfaltenden Globalisierung Weltpolitik betreiben, wollten sie ihren damals als selbstverständlich erachteten Anspruch als Großmacht aufrecht erhalten. Das neue Zeitalter des kostspieligen Strebens nach malariaverseuchten Dschungelstreifen, abgelegenen Südseeinseln oder gottverlassenen Wüstenregionen, die man um jeden Preis durch Eisenbahnen erschließen wollte, war von globalen Kräften geprägt, die sich der Gestaltungsmacht der Politiker in Paris und Berlin weitgehend entzogen. In diesem erweiterten Kontext überseeischer Ambitionen musste das alte Elsass-Lothringen-Problem endgültig zu einer provinziellen Frage mutieren.

Zwar hatte der Gedanke eines Revanche-Krieges gegen die Deutschen in den Jahren 1886/87 in Frankreich noch einmal eine kurzzeitige Renaissance erlebt, war aber mit dem Sturz und der Flucht des als „General Revanche“ bekannten Verteidigungsministers Georges Boulanger, rasch in sich zusammengefallen. Frankreichs Dritte Republik kämpfte seit 1871 um ihren Status als Großmacht, suchte verzweifelt Bündnispartner und konnte sich daher eine Verengung ihres außenpolitischen Spielraums, der sich durch ein betontes Offenhalten der Elsass-Lothringen-Frage ergeben würde, gar nicht mehr leisten. Es mochten damals freilich nicht viele Franzosen so weit gehen wie der bekannte Pariser Publizist Rémy de Gourmonts, der Elsass und Lothringen die „vergessenen Länder“ nannte, für die er nicht einmal den kleinen Finger seiner linken Hand hergeben würde, doch einen Krieg zur Rückeroberung der verlorenen Provinzen lehnte die Mehrheit der Franzosen nach dem Zeugnis des deutschen Geschäftsträgers in Paris, Georg Graf von Münster, entschieden ab. Wer von der Revanche als einem nahe bevorstehendem Ereignis spreche, so der deutsche Diplomat, ernte in politischen Kreisen entweder Kopfschütteln oder bekäme dringende Warnungen zu hören. Man neige vielmehr nach der Boulanger-Krise dazu, die Rückkehr Elsass-Lothringens in den Schoss Frankreichs in eine ferne und nebelhafte Zukunft zu projizieren.

Nach Boulanger trat im Verhältnis zwischen Kaiserreich und Dritter Republik eine spürbare Entspannung ein. Die Franzosen schickten zur Eröffnung des Nord-Ostssee-Kanals 1894 sogar ein kleines Geschwader und sechs Jahre später diente ein französisches Truppenkontingent während des chinesischen Boxeraufstandes unter einem deutschen Oberbefehlshaber. Zwar beging man in fast allen deutschen Staaten am 2. September 1895, ein Vierteljahrhundert nach der Gefangennahme Kaiser Napoleons III. und seiner Armee, noch einmal mit großem Aufwand den Sedanstag, doch waren die Veranstalter sichtlich bemüht, den Feiern die antifranzösische Spitze zu nehmen und dafür die Reichsgründung in den Vordergrund zustellen. In den darauffolgenden Jahren verlor der Gedenktag dann rasch an Bedeutung.

Die Zeit nach der Jahrhundertwende war durch eine paradoxe Asymmetrie im Verhältnis der beiden rivalisierenden Mächte geprägt. Während Frankreich in der Folge der Dreyfuss-Affäre trotz der glamourösen Maske der Belle-Epoque an innenpolitischer Stabilität verlor und immer mehr seine Armee zur Unterdrückung von Massenstreiks einsetzen musste, entwickelte sich das Reich zum „Tigerstaat“. Deutschlands innovative Industrie erzielte gerade auf den Gebieten der Chemie und der Elektrik immer neue Rekorde und seine Universitäten hatten inzwischen eine weltweite Spitzenposition errungen. Außenpolitisch aber gelang es Frankreich gerade in dieser Phase, sich Zug um Zug aus den Ketten der von Bismarck geschmiedeten Isolation zu lösen. Der entscheidende Schritt glückte Außenminister Théophile Delcassé, als er im April 1904 zur Überraschung der Berliner Wilhelmstrasse, ein Abkommen mit dem alten Rivalen Großbritannien zustande brachte, das Frankreichs Interessen in Marokko garantierte. Zunächst nur auf koloniale Fragen beschränkt, ebnete die neue Entente cordiale rasch einer intensiven militärisch-politischen Zusammenarbeit der beiden vormals verfeindeten Mächte den Weg. Dass der Quai d’Orsay zuvor versucht hatte, mit dem Reich eine Einigung über die strittigen Fragen in Nordwestafrika zu erzielen, damit aber an den überzogenen Forderungen Berlins gescheitert war, blieb bis heute von dem anschließenden Paradigmenwechsel der britisch-französischen Einigung verdeckt. Eine ernsthafte Verschärfung im Verhältnis beider Mächte trat allerdings erst 1911 im Zuge der zweiten Marokkokrise ein. Berlins Versuch, durch ein betont aggressives Auftreten die neue Triple-Entente aus Frankreich, Russland und Großbritannien zu sprengen, scheiterte auf der Konferenz von Alcegiras. Zwar konnten Frankreich und Deutschland in der Folge die strittigen Fragen bilateral beilegen, doch die öffentliche Meinung in beiden Ländern blieb alarmiert. Während sich in Frankreich angesichts des übermächtigen Nachbarn jenseits der Vogesen nach einer Dekade des Niedergangs eine nationale Erneuerung vollzog, zu deren wichtigstem Protagonisten der neue Ministerpräsident Raymond Poincaré zählte, steigerten sich in Deutschland die Einkreisungsängste und die Risikobereitschaft der Reichsleitung. Ob der gebürtige Lothringer Poincaré tatsächlich mit russischer Assistenz einen Revanchekrieg gegen das Reich führen wollte, er somit gerade nicht zu den „Schlafwandlern“ zu zählen war, wie es auch Christopher Clark in seiner gleichnamigen Studie nahegelegt hat, muss offen bleiben. Wahrscheinlich wäre ohne die Balkankrisen seit 1908 und den verschärften Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Russland selbst diese kritische Phase in den Beziehungen zwischen Berlin und Paris glimpflich überwunden worden.

Will man nun unbedingt eine Linie zwischen den Einigungskriegen und 1914 ziehen, wäre vielleicht nicht das „Frankfurter Diktat“ von 1871, sondern der fünf Jahre zuvor geschlossene Friede von Prag der überzeugendere Ausgangspunkt. Es war der Krieg von 1866, der Österreich aus Deutschland und Italien verdrängte und zur Wahrung seiner Großmachtambitionen auf den Balkan verwies, was unweigerlich zur Konfrontation mit dem Slawentum und Russland führen musste.

Gewiss hätten sich „Freundschaft und Versöhnung“ zwischen Frankreich und Deutschland, wie sie heute gerne propagiert werden, auch ohne den Kriegsausbruch von 1914 in Jahrzehnten nicht eingestellt, wohl aber weiterhin friedliche Koexistenz und partielle Zusammenarbeit. Zwischen Staaten mit einer klar definierten Staatsräson ist dies ja der politische Normalfall.

 


 

 

Klaus-Jürgen Bremm ist Historiker mit dem Spezialgebiet Militärgeschichte und Publizist. Er veröffentlichte zahlreiche erfolgreiche Sachbücher.

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