Als der achtzehnjährige Schulabbrecher Patrick Leigh Fermor sich im harten Winter 1933/34 auf den weiten Weg nach Konstantinopel machte – allein, zu Fuß, von London aus mit dem Schiff aufs Festland und dann weiter Rhein und Donau hinauf –, hatte er sich zuvor um eine möglichst zweckdienliche Ausrüstung bemüht:
„Das meiste kam aus Millets Laden für Militär-Überbestände: ein alter Armeemantel, Unterwäsche in mehreren Schichten, graue Flanellhemden, ein paar weiße für Feiertage, eine weiche lederne Windjacke, Gamaschen, Nagelstiefel, ein Schlafsack ..., Notizbücher und Skizzenblocks, Radierummis ... ein altes Oxford Book of English Verse.“[1]
Gedichte? Gedichte. Der junge Abenteurer ist ein Träumer, wie er Jahrzehnte später in der Rückschau schreibt: Kunst und Dichtung vergangener Zeiten, Poesie und Pathos des „Es war einmal ...“ – sie sind ihm auf seiner Reise so beflügelnd wie Bier und Schnaps in einer Kölner Schifferkneipe und so nahrhaft wie die „Kniadel“, die ihm in einem bayerischen Wirtshaus aufgetischt werden. Als die Oxford-Sammlung unterwegs verloren geht, behilft der vormalige Problemschüler – der doch bei allem Schabernack stets nur versucht hatte, „das Leben in besseren Einklang mit der Literatur zu bringen“ – sich auf seine Weise:
„Auf langen, geraden Straßen, wo die Landschaft sich nur langsam veränderte, vertrieb ich mir oft mit Singen die Zeit, und wenn mir die Lieder ausgingen, rezitierte ich Gedichte. ... In der Schule mussten Sachen auswendig gelernt werden, aber das war nicht viel. Das dortige Pensum wurde – wie es stets bei Leuten ist, die ohne Poesie nicht leben können – um ein Vielfaches übertroffen von der persönlichen Anthologie, die ich im Kopf hatte, teils Verse, die von selbst haftengeblieben waren, teils solche, die ich bewusst lernte, für den Fall, daß es mich einmal auf eine einsame Insel verschlug oder in Einzelhaft.“[2]
Wir wissen nicht, ob der junge Norman Davies sich gleichermaßen auf den Ernstfall vorbereitet hat. Wir wissen nur, dass der Dreiklang von Geschichte(n), Gedichten und Geografie, der eine Generation zuvor Patrick Leigh Fermor begeistert hatte, auch für den Schuljungen aus dem nordenglischen Bolton prägend gewesen ist. In seinem großen Reisebuch Ins Unbekannte schildert der Emeritus Davies nun, wie er als junger Leser Reiseliteratur verschlang – und schließlich auch mit den Schriften Fermors Bekanntschaft machte –; wie er neben Kirchenliedern und Schlagern aus dem Radio auch Gedichte ins Herz schloss und auf schulischen Bildungs- und Wanderfahrten, schließlich bei ersten Reisen auf eigene Faust, Geschichte und Dichtung, Land und Leute gleichermaßen erkundete.
Aus dieser prägenden Phase seiner eigenen Lebensgeschichte greift der Historiker eine Fahrt in den Osterferien 1956 heraus, als die Schulleiterin Miss Higginson „[es] wagte, mit einem Trupp halbwüchsiger Jungen und Mädchen nach Venedig, Florenz und Verona aufzubrechen. Als Lektüreempfehlung für die lange Zugfahrt wies sie uns auf ein schmales Bändchen hin, in dem die Klassiker der lateinischen Literatur in ihrem Zusammenhang mit der italienischen Landschaft vorgestellt wurden. Es hieß Poets in a Landscape ... und ich war sofort gefesselt – der Beginn einer lebenslangen Begeisterung.“[3]
„Dichter und ihre Landschaft“, so lautet der Untertitel dieses für Norman Davies prägenden Buches in seiner deutschen Übersetzung.[4] „Dichtung und ihre Landschaft“ – so könnte man auch etliche Passagen in Davies’ Buch selbst betiteln: Annähernd achtzig Mal, das ergibt die Durchsicht der mehr als 800 Seiten auf „lyrisches Reisegepäck“ aller Art, zitiert Davies Sonette und Oden, Epen und Volkslieder, Spottverse, Chansons und Limericks in englischer und walisischer, lateinischer und polnischer, französischer und italienischer Sprache. Eichendorff und Goethe, diese beiden Italienreisenden in Dichtung und Wirklichkeit, kommen auch im Original auf Deutsch zu Wort.
Bei allen anderen stellte sich für meinen Kollegen Jörn Pinnow und mich, als wir uns an die Übersetzung von Beneath Another Sky ins Deutsche machten, bald die Frage, wie wir diese Vielgestaltigkeit und Vielstimmigkeit für das hiesige Lesepublikum erfahrbar machen sollten – zumal in Sprachen, die wir (anders als etwa Norman Davies das Polnische) überhaupt nicht beherrschen?
In vielen Fällen schien die Lösung leicht: Konnten wir doch aus dem Vollen schöpfen und auf die nachschöpferische Arbeit von Übersetzerkolleginnen und -kollegen zurückgreifen, die sich mit größter Sorgfalt schon vieler Gedichte angenommen hatten, deren Übersetzung wir nun nur noch zitieren brauchten. – „Nur noch“ war gut! Spätestens im Fall Shakespeare standen wir dabei nämlich vor der Qual der Wahl: Welchen der vielen „deutschen Shakespeares“ sollte man wählen? Den „klassischen“ (Schlegel-Tieck)? Einen neueren (etwa die Übersetzung des großartigen, unlängst verstorbenen Frank Günther)? Einen eigenwilligen, noch dazu in aufälliger kleinschreibung verfassten (stefan george)?
Dass es schließlich ausgerechnet Karl Kraus geworden ist, in dessen Übersetzung nun die Zeilen aus Shakespeares Sonett 27 („Weary with toil, I haste me to my bed“) auf S. 32 in Norman Davies’ deutschem Buch erscheinen, konnte erst nach gründlichem Vergleichen und Abwägen feststehen; schließlich sollten die Verse mit ihrem spezifischen „Sound“ ja genauso gut und fließend in ihr neues, deutsches Umfeld passen wie Shakespeares Original in Davies’ englische Prosa:
Weary with toil, I haste me to my bed,
The dear repose for limbs with travel tired;
But then begins a journey in my head,
To work my mind, when body’s work’s expired ...
Wenn ich, erschöpft von Mühsal, ruhen will,
die müden Augen fallen mir nicht zu;
ach, dann ist’s erst in meinem Kopf nicht still:
der Leib will Ruh, der Geist gibt keine Ruh. ...
Die emotionale „Prägnanz“ Shakespeares, um die es Norman Davies in dieser Passage geht: In Kraus’ schlichter, aber eindringlicher Übersetzung wird sie greifbar. Da ist es selbst in einem Reisebuch zu verschmerzen, dass der Übersetzer die Doppeldeutigkeit des Shakespeare’schen „travel“ – als Reise und Arbeit wie französisch travail – gar nicht erst aufgreift, anders als Stefan George etwa („... die teure ruh für glieder reise-matt“). Dafür klingt Kraus dann wieder in anderem Sinne mit Davies zusammen: als unermüdlicher Lese- und Vortragsreisender in eigener Sache, der sich noch dazu seine – gewohnt bissigen – Gedanken über die Berührungspunkte von Reisen und Übersetzen gemacht hat: „Ein Werk der Sprache in eine andere Sprache übersetzt, heißt, daß einer ohne seine Haut über die Grenze kommt und drüben die Tracht des Landes anzieht“ ...[5]
Von Joachim du Bellays Renaissance-Sonett „Heureux qui comme Ulysse ...“ in der zart-sehnsüchtigen Übertragung von Ralph Dutli (S. 16) bis zu der beinah heiteren Abgeklärtheit, mit der Lonja Stehelin-Holzing das „Requiem“ von Robert Louis Stevenson zum Springen und zum Klingen bringt (S. 576), umfasst die deutsche Ausgabe von Norman Davies’ Buch nun zahlreiche „Leih-Übersetzungen“, für die wir den jeweils verantwortlichen Kolleginnen und Kollegen nur dankbar sein können: dankbar, weil sie uns große Mühen (und dem Verlag immense Kosten!) erspart haben; dankbar aber auch, weil wir immer wieder auf kleine Kostbarkeiten der Übersetzerkunst gestoßen sind, die das Unbekannte ins Eigene geholt und in der Nachschöpfung wiederum Großes geleistet haben. (Und selbst wenn Norman Davies seine deutschen Übersetzer vor die denkbar undankbare Aufgabe stellt, vier schlechte Übersetzungen ein und desselben Gedichts aus der Feder des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin aufzutreiben – „Ein besseres Argument dafür, [selbst] Russisch zu lernen, wird man wohl kaum finden“, meint er –, selbst dann war diese Vorarbeit uns Gold wert; denn wie lange hätten wir wohl gebraucht, um auch nur schlecht Russisch zu lernen? Das Ergebnis können Sie jedenfalls auf S. 40/41 nachlesen.)
In etlichen Fällen blieb die Suche nach früheren Übersetzungen jedoch vergebens und wir mussten gewissermaßen selbst zur Feder greifen – vor allem dann, wenn die Verfasser nicht vorrangig als Dichter bekannt geworden waren, wie etwa der Literaturwissenschaftler und Shakespeare-Experte A. L. Rowse, der seine Heimat Cornwall besungen hat (auf S. 78):
This was the land of my content.
Blue sea and feathered sky,
Where, after years away, at last
I came home to die.
Dies war das Land, wo Ruh ich fand
nach Jahren in der Fremde,
wo Meeresblau und Wolkenband
mich heimführn an mein Ende.
Oder die von Davies zitierten Poeten sind zwar in ihren Sprachen „kanonisch“ geworden, bislang aber noch nicht ins Deutsche übersetzt, wie der frankophone mauritische Dichter Robert Edward Hart, aus dessen 1925 entstandenen Gedicht „Terre des morts et des vivants“ Davies in seinem Mauritius-Kapitel zitiert (S. 422):
Rien n’est doux à mon Cœur autant que cette terre
Où j’ai vécu. Rien n’est plus haut que le ciel. Rien
N’est plus sûr que la Mer Indienne où mes péres
Ont arrêté l’élan de leur nef. ...
Nichts andres scheint mir süß, so süß wie dieses Land,
wo ich gelebt hab. Nichts höher als sein Himmel, keins
sichrer als das Indische Meer, wo meiner Väter Hand
das Drängen ihrer Schiffe anhielt. ...
In solchen Fällen war es uns ein Vergnügen, ein kleines Stück des großen Unbekannten, das Norman Davies mit seinem Buch in vielen Facetten – und eben auch in der Poesie – eingefangen hat, mit unseren Mitteln ins Deutsche zu bringen. Was alle die von Davies zitierten Gedichte nämlich gemeinsam haben ist, dass sie Erfahrungen von Reise und Wiederkehr, von Fernweh, Heimweh und langen Lebenswegen in sich bergen. Sie bringen das Unbekannte, dem der Historiker sich auf seinen Reisen beständig annähert, zum Leuchten und tauchen damit auch das Bekannte in ein neues Licht. „Wenn einer eine Reise tut“, dichtet Matthias Claudius, „dann kann er was erzählen“ – er kann Bücher darüber schreiben und diese übersetzen lassen; und er kann selbst Gedichte verfassen, wie es Norman Davies nach seinen Reisen durch Cornwall auch getan hat (S. 80):
... These are but the gleanings,
Lyonesse ablaze.
Cornwall’s hidden meanings
Lost in Kernow’s haze.
Dies sind nur die Reste,
Lyonesse in Brand.
Cornwalls stille Rätsel
deckt Kernos Nebelwand.
Wie hundertdreißig Jahre zuvor Matthew Arnold in „Dover Beach“, so wird auch Norman Davies angesichts der Meeresbrandung zu einer „poetischen Tiefenbohrung“ angeregt, die imaginativ das auslotet, was der Fachwissenschaft womöglich auf immer verschlossen bleiben wird. Als Reisender wird der Historiker zum Dichter – in dem vollen Bewusstsein, dass in jeder noch so intimen Wiedergabe des auf Reisen Erlebten ein Kern jenes Unbekannten verbleiben muss, das alle Reisenden nach draußen lockt und alle Lesenden tief nach innen, immer und immer wieder.
[1] Patrick Leigh Fermor, Die Zeit der Gaben. Zu Fuß nach Konstantinopel: Von Hoek van Holland an die mittlere Donau. Der Reise erster Teil, übers. v. Manfred Allié (Frankfurt a. M.: Fischer, 2007), S. 30.
[2] Fermor, Die Zeit der Gaben, S. 111.
[3] Norman Davies, Ins Unbekannte. Eine Weltreise in die Geschichte, übers. v. Tobias Gabel und Jörn Pinnow (Darmstadt: wbg theiss, 2020), S. 15.
[4] Gilbert Highet, Römisches Arkadien. Dichter und ihre Landschaft (Catull, Vergil, Properz, Horaz, Tibull, Ovid, Juvenal), übers. v. Thomas Knop (München: Goldmann, 1964).
[5] Karl Kraus, Aphorismen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986), S. 245.