Gastbeitrag: Michael Wiescher zum 35. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe

„Dat macht alles dat Atom“, antwortete die Gärtnersfrau meiner Mutter, als diese über das Wetter klagte. Das war 1956. Eine Feststellung, die mich faszinierte, weil ich mich als Siebenjähriger wunderte und fragte, was genau das Atom sei und wie es Regen erzeuge. Diese Feststellung von Frau Thienes zu den globalen Auswirkungen des Atomwaffentestprogramms kam mit absoluter Überzeugung und Sicherheit. Sie spiegelte die Auffassung von immer mehr Bürgern wider, dass nichts Gutes von diesen Tests zu erwarten sei und alle Lebensbedingungen beeinflusst würden. 1986, vor 35 Jahren, geschah „Tschernobyl“, die Explosion eines Reaktorblocks des gleichnamigen Kernkraftwerks nahe Kiew in der Ukraine. Die freigesetzte radioaktive Staub- und Gaswolke umzirkelte Ost- und Mitteleuropa und schlug sich auch in Deutschland nieder, was vielfach die Menschen in Ost und West in Panik versetzte. Immer genauere Messinstrumente entdeckten radioaktives Cäsium in Milch, Pilzen, Haselnüssen, im Regen und im Sand der Kinderspielplätze. Tschernobyl und seine Umgebung wurden zur Sperrzone erklärt. Die Zahl der Strahlungsopfer lag verschiedenen Angaben zufolge zwischen 100 und 1.000.000 – je nach Todesart, Analysemodell, Interessenlage oder auch Kenntnislage der jeweiligen Sprecher. Die Realität ist wohl eher im unteren Bereich angesiedelt, aber der obere Zahlenbereich macht den tieferen Eindruck.

Fast ein dreiviertel Jahrhundert ist seit Beginn des Atomwaffentestprogramms vergangen. Höhepunkt war die Zündung der Zar-Bombe am 30. Oktober 1961 auf Insel Nowaja Semlja im russischen Nordmeer. Diese Explosion markierte den Gipfel menschgemachter, global in die Atmosphäre gepusteter Radioaktivität. Tschernobyl und Fukushima erreichten in dieser Hinsicht lokale Spitzenwerte. Die Dosis der langlebigen Produkte Cäsium-136 und Strontium-92, die in unseren Körpern eingebunden sind und noch werden, ist seit der Bombenzündung 1961 auf ein Viertel abgefallen, die von Tschernobyl auf etwas weniger als die Hälfte. Nach den Gesetzen des radioaktiven Zerfalls wird dieses Material nie ganz verschwinden, aber in wenigen Jahren unter der Schwelle unserer Strahlungsbelastung durch natürlich vorkommende Radioaktivität liegen. Wo sich diese Schwelle befindet, ist ebenso wie die Anzahl der Toten von Tschernobyl Thema intensiver Debatten, die auf unterschiedlicher Interpretation von Todesarten, Modellvorhersagen, Statistiken sowie Ideologien und Glaubenssätzen beruhen.

Tschernobyl war eine Konsequenz veralteter Technik und menschlichen Fehlverhaltens aufgrund eines Mangels an Training und Information. Fukushima entwickelte sich aus einer Naturkatastrophe (Seebeben mit folgendem Tsunami) durch unzureichende Sicherheitsplanung und mangelnder Sicherheitstechnik. Solche Fehler kann man nicht durch Abschalten und Wegschauen korrigieren, insbesondere, wenn man von vielfach veralteten Kernkraftwerken in anderen europäischen Ländern umzingelt ist. Sicherheit kann nur durch Investition und Entwicklung verbessert werden. Unglücke in der modernen technologischen Welt des Menschen lassen sich nicht verhindern, ob im Verkehr, in der Energietechnik oder in der industriellen Fertigung. Verbesserte Methodik, Training und Weiterentwicklung können Unglücke und Missverständnisse vermeiden. Tschernobyl sollte nicht als Fanal des ultimativ Bösen in der Kernkraft betrachtet werden, sondern dazu motivieren, auch für die Kernkraft bessere Verfahrenstechniken und Sicherheitsbedingungen zu entwickeln, um sie unter Kontrolle zu halten – wie jedes andere technische Verfahren auch.

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