Defensor Pacis oder „Der Verteidiger des Friedens“ – das große Buch des Marsilius von Padua
Der Buchtitel
Defensor Pacis - schon der (eigentümliche) Titel des Buches kündigt es an: Marsilius sieht Frieden und Ruhe (pax et tranquillitas) in seiner mittelalterlichen Welt überall radikal gestört oder doch bedroht und will diesem Desaster abhelfen. Gestört ist der Frieden in der politisch verfassten Gesellschaft durch den fortwährenden Kampf zwischen Kaiser und Papst, der damals bereits seit mehr als zwei Jahrhunderten die Welt in Unruhe setzte und spaltete. Das Buch soll die verborgene Ursache dieser verderblichen Spaltung aufdecken, sodass der verteidigte Frieden wieder in aller Welt einkehren kann.
Der Werdegang des Verfassers
Marsilius de‘ Mainardini entstammt einer Notarsfamilie der oberitalienischen Stadt Padua, ist aus der schriftkundigen Elite seiner Vaterstadt geboren und hatte sich in Padua nicht wie sein Vater und sein Bruder einem Jurastudium zugewandt, sondern anscheinend an der Universität Paduas mit dem Studium der Artes (d.h. der Philosophie) wohl bei dem berühmten Mediziner Pietro d’Abano (†vor Februar 1316) begonnen, der (um 1305/1307) aus Paris, der damals bedeutendsten Universität Europas, in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Zu dem lebhaften Kreis frühhumanistischer Sprach- und Kulturpflege in Padua hatte er auch später noch nachweislich Verbindung, hat aber selbst niemals dessen stilistische Orientierung am Latein Ciceros und Vergils geteilt. Zeit seines Lebens schrieb er seine lateinischen Texte in scholastisch-mittelalterlicher Manier. Offenbar auf Empfehlung seines Lehrers zog Marsilius (spätestens 1308) nach Paris, wo er sich einer Gruppe von früheren Schülern Pietros anschloss und u.a. mit Johannes von Jandun eine lebenslange Freundschaft schloss. Gegen 1310 spätestens muss er in Paris das Examen zum magister artium gemacht haben, um dann seine Lehrtätigkeit an der Artesfakultät aufzunehmen. Die studentischen landsmannschaftlichen naciones der Universität wählten ihn für die drei Monate (von Dezember 1312 bis März 1313) zu ihrem rector. Schon aus der kurzen Amtszeit wird klar: das war zwar nicht ein Amt, das einem heutigen Rektorat einer europäischen Universität entspricht. Es verschaffte aber dem jungen Magister wertvolle Einblicke in wichtige Entscheidungen am Hof des französischen Königs und ermöglichte ihm auch persönliche Besuche bei der päpstlichen Kurie, sodass er eine Zeit lang erwogen hat, in der Politik der oberitalienischen Städtebünde durch persönliche Diplomatie im Dienst ghibellinischer Signori seinen künftigen Weg zu suchen. Doch als Erfolge ausblieben, zog er sich bald wieder nach Paris zu Lehre und Studium an der Artesfakultät zurück. Seinen Defensor pacis hat er (nach Auskunft von zwei zeitgenössischen Handschriften) „in Paris verfasst und dort am 24. Juni im Jahre des Herrn 1324 in der Sorbonne im Haus der Theologen vollendet“ (compositus et completus est liber iste anno domini MCCCXXIIII Parisiis in vico Sorbona in domo studentium in sacra theologia ibidem). Im Schlusskapitel heißt es zusammenfassend: „Regierung und Volk können überall (!) aus diesem Buch entnehmen, was zu beachten ist, um Frieden und Freiheit im eigenen Land zu erhalten.“ Marsilius zählt dann noch einmal die Einsichten auf, die seine Leser in ihren ganz verschiedenen Ländern aus seinen Darlegungen gewinnen können. Damit will er sie auf sein Programm zur Heilung des politischen Schadens seiner Zeit verpflichten. Er versteht sein Buch nicht als neutralen Bericht über ein theoretisches Problem, er sieht ihn als Aufruf zu aktiver Aktion.
Das zentrale Programm
Von Anfang an hat Marsilius seine Leser über die Herkunft seiner Erkenntnisse nicht im Unklaren gelassen. Bereits im ersten Kapitel hat er geschrieben, die Ursachen von Zwietracht und Streit im Gemeinwesen seien „sehr zahlreich“; „wie sie unter gewöhnlichen Umständen entstehen können, hat der in der politischen Wissenschaft herausragende Philosoph (philosophorum eximius in civili sciencia) – gemeint ist Aristoteles – fast alle beschrieben. Dennoch gibt es außer diesen Ursachen eine ganz einzigartige und tief verborgene, an der das Römische Reich schon lange gelitten hat und jetzt noch beständig leidet […]. Diese Ursache […] hat weder Aristoteles noch ein anderer Philosoph seiner oder einer früheren Zeit in den Blick bekommen können, da sie erst lange nach dessen Lebenszeit als Forderung in Nachwirkung des von Gott selbst bewirkten Wunders von Christi Geburt in der Welt aufgetreten ist. Deshalb hatte dieser Anspruch zunächst auch das Aussehen eines Guten und Nützlichen, während er doch der Menschheit ganz verderblich wurde und bis in die Gegenwart hinein ihr insgesamt ebenso wie auch jedem einzelnen Gemeinwesen in ihr unerträglichen Schaden zuzufügen droht – gemeint ist die im mittelalterlichen Streit zwischen kirchlicher und weltlicher Gewalt vom Papst beanspruchte „Fülle der (irdischen) Herrschaftskompetenz“ (plenitudo potestatis) aufgrund der angeblich von Christus dem Apostelfürsten Petrus übertragenen Vertretungsvollmacht. Diese päpstliche Gewaltenfülle habe es dem Papst ermöglicht, bis auf den heutigen Tag die ordnungsgemäße Tätigkeit des Herrschers im Königreich Italien zu behindern und damit das „Römische Reich“ mit Elend und Ungerechtigkeit fast jeglicher Art zu überhäufen. (Dieses Argument wiederholt Marsilius dann noch verschiedentlich in wechselnden Formulierungen).
Von dieser Position aus argumentiert das Buch konsequent. In seiner ersten Hauptabteilung der Diccio I bietet es seinen Lesern eine durchdachte, an der Sozialphilosophie des Aristoteles überprüfte und selbständig weiterentwickelte Theorie der politischen Organisation, die eine scharfsichtige Kritik an der mittelalterlichen Kirche, an Papst und Kurie grundiert. Die politische Verfassung der menschlichen Gesellschaft muss, so meint Marsilius, in einer freien politischen Herrschaftsordnung durchgängig durch menschliche Gesetze eines Gesetzgebers gesichert sein, der mit zwingender Gewalt (potestas coactiva) verbindliche und wirksame Normen des vernünftigen Zusammenlebens vorschreiben und im praktischen Leben auch durchsetzen kann. Insofern ist es wichtig zu fragen, was ein ‚Gesetz’ im staatlichen Verband zu einer derartig letztverbindlichen Verhaltensnorm macht. Marsilius stellt fest, dass nicht der Inhalt der Norm, nicht das Gute und Richtige, das angeordnet wird, einem Gesetz Geltung verschaffen kann, sondern allein der Erlass der Norm durch das dazu kompetente Organ der politischen Gesellschaft. Alle andersartigen Normen wie die canones des Kirchenrechts, die von kirchlichen Amtsträgern (Papst und Bischöfen) und von heiligen Kirchenlehrern stammen, können aus sich heraus in einer Herrschaftsordnung keine unmittelbare Geltung erlangen und selbst Gebote und Weisungen Gottes können wie die canones im Staat nur dann ‚gesetzliche‘ Bindekraft gewinnen, wenn der kompetente Gesetzgeber sie eigens als Gesetze erlassen oder als geltend bestätigt hat. Er wird von Marsilius – wohl zur Unterscheidung vom Papst (dem obersten kirchlichen Gesetzgeber) immer wieder der „gläubige Gesetzgeber“ (legislator fidelis) genannt. Das unterstreicht die Distanz des Marsilius gegenüber Papst und Amtskirche, ohne ihm grundsätzliche Kirchenfeindschaft zuzurechnen. Die Einsicht in den ‚staatlichen‘ Charakter der verhaltensnormierenden ‚Gesetze‘ bedeutet zugleich, dass es auch gültige unvollkommene ‚Gesetze‘ geben kann, die in Geltung stehen, weil sie vom Gesetzgeber mit zwingender Kompetenz erlassen sind, selbst wenn es vernünftigere, funktionell bessere oder auch nur gleichwertig andere denkbare Regelungen geben sollte. Mit dieser Auffassung stellt sich Marsilius gegen eine alte Tradition, in deren Rahmen noch kurz zuvor Dante Alighieri (†1321), der um etwa zwei Jahrzehnte ältere Zeitgenosse des Marsilius in seiner Monarchia solchen Gesetzen jede Verbindlichkeit aberkannt hatte, da sie nur dem Namen nach Gesetze sind, aber Gesetze nicht sein können. Für jede Beurteilung der Gesetzesauffassung des Marsilius wird es wichtig sein, mit welcher Instanz in einem Herrschaftsverband er den für den Erlass von ‚Gesetzen‘ kompetenten Gesetzgeber identifiziert. Er schreibt zweimal – und unterstreicht dabei leicht variierend ein einziges Wort – dass die Befugnis zum Erlass menschlicher Gesetze allein [solam; tantummodo] der Gesamtheit der Bürger oder ihrem wichtigeren Teil zusteht. Zur hier zugelassenen Alternative zur Gesamtheit, d.h. ihrem wichtigeren Teil [valencior pars], der die angeblich allein zuständige Gesamtheit vertreten kann, gibt Marsilius mit einem Zitat aus Aristoteles [κρεῖττον μέρος] von vorneherein zu verstehen, dass hier kein Vorgriff auf eine (moderne) numerische Mehrheit vorliegt. Vielmehr benennt diese unbestimmte Bezeichnung nur einen Platzhalter für verschiedene Instanzen, die in mittelalterlichen Staaten die meist nicht für die Gesetzgebung zuständige Gesamtheit (der Bürger) vertreten können und in der Verfassungswirklichkeit des 14. Jahrhunderts auch sehr verschieden vertraten. Auffällig ist, dass sich alle diese Alternativinstanzen analytisch virtuell auf eine Anordnung der Gesamtheit – und damit auf etwas wie die Vorform eines Gesellschaftsvertrages zurückführen lassen, wie er in der frühneuzeitlichen Politiktheorie noch ausführlich erörtert werden sollte. Für Marsilius genügte es, in diese Richtung zu blicken, er brauchte das nicht auszuführen, weil es ihm dazu wohl genügen konnte, eine solche Vorstellung abzulehnen, dass dem Papst die Fülle der (irdischen) Gewalt nicht aufgrund menschlicher Übereinkunft, sondern durch unmittelbar göttlichen Auftrag zugekommen sei, sodass keinerlei Beitrag der Gesamtheit denkbar war. Dies kritisch zu reflektieren und scharfsichtig zu kritisieren, wird die umfangreiche Diccio II des Buches dann entwickeln.
Das können wir hier nicht mehr verfolgen. Ebenso wenig können die Konsequenzen dieser in der politischen ‚staatlichen‘ Organisation zentrierten einheitlich konstruierten sozialen Lebensorganisation für die Kirche und ihre innere Organisation noch eingehender betrachtet werden, auch nicht hinsichtlich der Forderung der Freiheit, auch wenn das dazu zwingt, die gesamte II. Diccio hier bei Seite zu lassen, obwohl schon dem bloßen Umfang nach diese 2. Abteilung des Defensor pacis etwa zwei Drittel des gesamten Werkes umfasst und obwohl dieser Teil des Textes auch in der Wirkung auf Zeitgenossen und die unmittelbare Nachwelt deutlichere Spuren hinterließ als die theoretische Grundlegung in der Diccio I. In Diccio II müssen wir sicherlich auch ein ein wichtiges Anliegen des Autors erkennen, das näher dazu helfen könnte, Motivation, Absichten und Methode des berühmten Buches weiter aufzuklären.
Aufnahme und Wirkung des Buches
Über die ganze Zeit hin bis zur Moderne hat kein einziger Staat sich ausdrücklich oder zur Rechtfertigung eigener Aktionen auf das Buch des Marsilius bezogen, es wurde jedoch vielfach gelesen und in theoretischen Diskursen ausdrücklich oder unausdrücklich erörtert. Von den Zeitgenossen und der Nachwelt wurde das Werk mit Aufmerksamkeit aufgenommen. Heute noch sind 36 mittelalterliche Manuskripte des umfangreichen Werkes in Bibliotheken zu finden, während der Verlust von weiteren Exemplaren nicht abschätzbar ist. Im Vergleich zu anderen Haupttexten zur politischen Theorie ist diese Zahl des Defensor pacis jedenfalls durchaus bemerkenswert. Das Buch ist also trotz seiner Komplexität und entgegen einer bereits drei Jahre nach seiner Vollendung erfolgten päpstlichen Verurteilung als ‚Ketzerbuch‘ bis weit in die Neuzeit hinein immer wieder abgeschrieben und später dann auch gedruckt verbreitet worden. Seit dem 16. Jahrhundert sind zusätzlich mehrere Drucke veranstaltet worden. Insbesondere die reformatorischen Kirchen haben für verschiedene Übersetzungen in die Volkssprachen gesorgt, nachdem noch im 14. Jahrhundert (also lange vor der Reformation) zumindest eine heute verlorene) Übersetzung ins Französische veranstaltet worden war, die wiederum bereits 1363 eine (heute noch vorhandene (und von Carlo Pincin edierte) italienische (Teil-)Übersetzung hervorrief. Seit 1928 und 1933 liegt das lateinische Original in zwei tüchtigen modernen Editionen (durch Charles William Previté-Orton und Richard Scholz) und in einer langen Reihe von Übersetzungen in moderne Sprachen vor. Eine doppelsprachige lateinisch-deutsche Zusammenfassung der editorischen Bemühungen, begleitet von einer deutschen Version ist seit 2017 wieder greifbar.
Hinweise auf ausgewählte Literatur
A. Einträge in Lexika:
Carlo Dolcini / Roberto Lambertini, Mainardini, Marsiglio, in: Dizionario biografico degli Italiani Bd.67 (2006), Sp.569b – 576b; Jürgen Miethke: Marsilius von Padua, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.22 (1992) S.183–190; Helmut G. Walther, Marsiglio von Padua, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte2, Bd. 3/Lieferung 22 (2015), Sp.1339–1343.
B. Monographien:
Carlo Pincin: Marsilio (Pubblicazzioni dell‘ Istituto di scienze politiche dell’ Università di Torino, 17), Turin 1967; Cary Joseph Nederman, Community and Consent, The Secular Political Theory of Marsiglio of Padua’s “Defensor pacis”, Lanham, ML-London 1995; Gian Luca Briguglia, Marsilio da Padova (Pensatori, 31), Rom 2013 [übers. Delphine Caron-Faivre: Marsile de Padoue (Classiques Garnier), Paris 2015].
C) Sonstige Beiträge: Carlo Dolcini, Introduzione a Marsilio da Padova (I Filosofi, 63), Bari: Laterza, 1995; [Annabel Brett,] Introduction, in: Marsilius of Padua, The Defender of the Peace, edited and translated by Annabel Brett (Cambridge Texts in the History of Political Thought), Cambridge, UK, 2005, pp.xi–xxxi; [Jürgen Miethke,] Einleitung, in: Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis), lateinisch-deutsch, auf der Grundlage der Edition von Richard Scholz übersetzt, bearbeitet und kommentiert von Horst Kusch (†) [11958], neu eingeleitet und hrsg. von J. Miethke (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Reihe A.50), Darmstadt 2017, S.XV–XCIII; Johannes Heckel, Marsilius von Padua und Luther, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 44 (1958) S.268–336; Helmut G. Walther, „Die ganze Kirchengeschichte als (korrigierbarer historischer Irrtum? Marsilius von Padua zu den historischen Rahmenbedingungen des päpstlichen Primats (Defensor pacis, Dictio II), in: Irrtum – Error – Erreur, hrsg. Andreas Speer u. Maxime Mauriège (Miscellanea mediaevalia, 40), Berlin 2018, S. 435–456; Ruedi Imbach, Pax universalis – tranquillitas civitatis, Die politische und philosophische Bedeutung des Friedensgedankens bei Augustin, Dante und Marsilius von Padua, in: Frieden. Theorien, Bilder, Strategien, von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. Von Gerd Althoff, Eva-Bettina Krems, Christel Meier, Hans-Ulrich Thamer, Dresden 2019, S. 124–144.
Jürgen Miethke, geb. 1938, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg.