Ich erinnere mich noch sehr lebendig an meine Reisen in die ehemalige Tschechoslowakei, in der Zeit, als der Eiserne Vorhang noch existierte. Ich gehörte damals zu einer Gruppe niederländischer Universitätsdozenten, die in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts regelmäßig ein längeres Wochenende in Prag verbrachten, um dort an der sogenannten Samisdat-Universität illegale Vorlesungen zu halten. Das geschah zu Hause bei Dozenten, die nach dem Prager Frühling von der Universität entfernt worden waren. Sie verstanden sich als Vorposten der mitteleuropäischen Kultur und wollten die Verbindungen in den Westen offen halten. Es war immer wieder ein spannendes Unternehmen, schon als wir auf dem Prager Flughafen landeten und uns der Zollkontrolle stellen mussten, da wir immer auch Bücher aus dem Westen mitbrachten, die dort nicht zu haben oder sogar verboten waren.
Ich weiß noch, wie unangenehm getroffen ich war von der Einförmigkeit und Aussichtslosigkeit des Lebens dort, von der Hässlichkeit und Phantasielosigkeit der Wohnkasernen, von der völligen Stimmlosigkeit der Bürger, die sich den Ukázen von oben herab zu fügen hatten, usw. Ich glaube, dass ich mir damals erstmalig bewusst geworden bin, wie privilegiert wir in unserem Teil des Kontinents waren. Wo wir, wie gering auch immer, Einfluss auf den Gang der Dinge ausüben konnten, vom Gesetz vor Willkür geschützt waren, in Freiheit reden und unser Leben führen und unserer Phantasie in Kunst und Kultur freie Hand lassen konnten.
Als ich seitdem mehrere europäische Länder, darunter auch ehemalige osteuropäische, besucht habe, aus beruflichen Gründen oder während der Ferien mit meiner Frau und unseren Kindern, habe ich immer Freude erlebt an der Diversität der Städte, der Landschaften und Lebensweisen und an dem Reichtum auf historischem und kulturellem Gebiet, den Europa zu bieten hat. Immer habe ich zugleich das Gefühl gehabt, dass wir hier auf unserem europäischen Kontinent in der Tiefe eine Einheit bilden und eine gemeinschaftliche Geschichte und Kultur haben. Dass wir Europäer trotz allem eine Art von Verwandtschaft miteinander haben, uns nicht wirklich fremd sind. Das erfährt man erst recht, wenn man Länder mit ganz andersartigen Kulturen und Lebensweisen besucht, z. B. Indien, China oder sogar die Vereinigten Staaten von Amerika.
Im Jahr 2008 bekam ich von Seiten der Redaktion der neu gegründeten litauischen Zeitschrift Limes die Einladung, einen Beitrag über Europa zu schreiben, insbesondere über ihre geistigen Grundlagen. Ich habe dieser Einladung gerne Folge geleistet, eingedenk der Äußerung meines Landmannes, des Historikers Johan Huizinga, dass eine Kultur metaphysisch ausgerichtet sein, also eine richtungweisende Vision haben sollte oder nicht sein wird. Anders gesagt: Mensch und Gesellschaft können nicht einzig von Pragmatik und Sachlichkeit gedeihen, können nicht „vom Brot allein“ leben. So entstand der Artikel `Europe, Idea of a Continent: the Quest for the European Identity’.
Dieses europäische Narrativ, so ist meine feste Überzeugung, ist dasjenige, was unserer Kultur und Lebensweise letztendlich ihre Vitalität verleiht. Es ist die Geschichte einer ganz eigenen Form von Humanität und dazugehöriger Gesellschaftsform, das Narrativ eines beschwingenden Menschen- und Gesellschaftsbildes also, das uns Europäern bei allen Meinungsverschiedenheiten und praktischen Problemen zum ideellen Kompass dienen sollte. In meinem Buch Europa – Idee eines Kontinents habe ich dann versucht, die näheren Konturen dieses Europabildes zu skizzieren.
Koo van der Wal studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Germanistik in Amsterdam und Göttingen. Professor em. für Philosophie, Erasmus Universität Rotterdam. Publikationen u.a. auf dem Gebiet der politischen, Sozial- und Kulturphilosophie und der Natur- und Umweltphilosophie.