Zu lange haben wir die Arbeit unter dem Blickwinkel des Profits und nicht in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Wert betrachtet. Wir müssen neu bestimmen, was wir wertschätzen und warum wir dies tun.
Inmitten des Chaos, der Ungewissheit und der Angst vollzieht sich während der Corona-Krise eine stille Revolution: eine Revolution in der Art und Weise, wie wir Arbeit bewerten. Das Töpfeschlagen und Klatschen für die Mitarbeiter des Gesundheitswesens, das öffentliche Lob für diejenigen, die die Regale der Supermärkte auffüllen – all das erscheint uns plötzlich normal. Unser Applaus für diejenigen, die im medizinischen Bereich oder der Lebensmittelindustrie arbeiten, bringt den Wert zum Ausdruck, den wir in ihrem Beitrag zur Gesellschaft sehen.
Dabei wurde über den Beitrag der Arbeitenden viel zu lange hinweggesehen; stattdessen der Wert der Arbeit durch die Brille des Marktes beurteilt. Besonders in der angelsächsischen Welt, aber teilweise auch in Deutschland wurde seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan den Märkten die Aufgabe zugeschrieben, Arbeitsplätze zu schaffen, ihre Bedingungen zu diktieren und den Wert der Arbeit nach finanziellen Maßstäben zu bemessen. Was dann zählt, ist die Erzeugung von Kapital, und das Gehalt eines Arbeitnehmers wird durch die Macht von Angebot und Nachfrage bestimmt. In der derzeitigen Krise wird die Diskrepanz zwischen der Bewertung der Arbeit nach ihrem Beitrag für die Gesellschaft und nach der Logik des Marktes auf schmerzhafte Weise deutlich.
In Notzeiten haben die Formen der Arbeit Vorrang, die kurzfristig am wichtigsten sind: diejenigen, die uns buchstäblich am Leben erhalten. Weil wir mehr sind als unsere digitalen Avatare, weil wir Körper haben und unsere Körper Bedürfnisse, sind wir von denjenigen abhängig, die andere betreuen und pflegen oder die Lastwagen mit Lebensmitteln fahren. Kurz gesagt, richtet sich die Aufmerksamkeit jetzt auf diejenigen Arbeitsplätze, die direkt die menschlichen Grundbedürfnisse befriedigen.
Inmitten einer Krise wie dem Ausbruch von Covid-19 ist die Konzentration auf diese menschlichen Grundbedürfnisse nachvollziehbar und wichtig. Doch die beitragsbezogene Logik lässt sich auch auf andere Weisen übertragen, wie Arbeitende zur Gesellschaft beitragen: indem sie unsere höherrangigen Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Sinn erfüllen. Da gibt es zum Beispiel die Menschen, die die Orte betreiben, an denen wir zusammenkommen: Cafés, Kneipen, Fitness-Studios und Theater. Und es gibt diejenigen, die unser pulsierendes kulturelles Leben schöpferisch gestalten, seien es Komiker, Sportlerinnen oder unabhängige Filmemacher. Statt danach zu fragen, wie man das meiste Geld verdient, haben sie eine Vision von der Welt und von dem, was darin wertvoll ist. Durch ihre Arbeit versuchen sie, diese Werte zu verwirklichen.
Im Gegensatz dazu sieht ein marktorientiertes Verständnis der Arbeit in der menschlichen Tätigkeit nichts anderes als einen Input-Faktor in einen Produktionsprozess, der letztlich der Gewinnmaximierung dient. Wir haben uns so sehr an diese Perspektive gewöhnt, dass wir vergessen haben, dass während eines großen Teils der Menschheitsgeschichte der ausschließliche Wunsch, Geld zu verdienen, als pathologisch angesehen wurde, als eine Art Sucht, die die Seele des Einzelnen eher auffrisst, als ihn glücklich zu machen.
Der Soziologe Max Weber versuchte, die Ursprünge des Kapitalismus mit seinem grenzenlosen Profitstreben als Folge eines verlagerten religiösen Strebens zu erklären. Bekanntermaßen war Weber der Ansicht, die calvinistische Arbeitsethik sei mit dem kapitalistischen Gewinnstreben untrennbar verbunden. Heutige Historikerinnen haben beträchtliche Zweifel an Webers Theorie. Trotzdem wagen es nur wenige Menschen, die Legitimität einer unbegrenzten Jagd nach Profit in Frage zu stellen. Indem wir diese akzeptieren, akzeptieren wir auch die Reduzierung der Arbeit auf ihren Marktwert, wobei Vergütung und Beschäftigungsbedingungen so ausgerichtet sind, dass die Profite steigern und sich die Kapitalakkumulation erhöht.
In Zeiten der Krise wird die Unmenschlichkeit einer marktgesteuerten Bewertung der Arbeit sichtbar. Wir würdigen plötzlich die Beiträge derjenigen, die dafür sorgen, dass unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigt werden. Es dämmert uns auch, dass die kleinen Unternehmen und kulturellen Organisationen, die unsere höherrangigen Bedürfnisse befriedigen – deren Aktivitäten jedoch auf Eis gelegt werden müssen, um „die Kurve flach zu halten“ – in Konkurs gehen könnten. Das zwingt uns die Frage auf, welche Zukunft vor uns liegt, wenn nur große, an Profit orientierte Unternehmen überleben, und welche Art von Beschäftigung dann für diejenigen übrig bleibt, die nach der Krise in den Arbeitsmarkt eintreten.
Die Bewertung der Arbeit ausschließlich über den Markt übersieht einen entscheidenden Punkt. Viele Einzelpersonen und Organisationen erkennen die gesellschaftliche Dimension der Arbeit, und sie erbringen oft Leistungen, die über die unmittelbar von ihnen zu erfüllenden Aufgaben weit hinausgehen. Eine Krankenschwester oder ein Arzt, die ihre Pflicht ernstnehmen, sich um die Kranken zu kümmern, werden auch versuchen, ihren Patienten psychologischen Beistand zu leisten. In ähnlicher Weise mag die Besitzerin eines kleinen Geschäfts zwar die Versorgung mit bestimmten Waren sichern, daneben trägt sie aber auch zur Belebung ihrer Straße bei. In der Sprache der Ökonomie sind all dies „positive Externalitäten“: wertvolle Beiträge für die Gemeinschaft, die aber nicht in die Preise einfließen und die in einem reinen Marktumfeld daher tendenziell zu wenig angeboten werden.
Die Logik des Marktes ermutigt die Menschen dagegen, Gewinne aus negativen Externalitäten zu erzielen: die Kosten auf andere abzuwälzen, sei es auf einzelne Personen oder auf die Gesellschaft als Ganzes. Dieses Verhalten ist besonders häufig bei großen Unternehmen, nicht nur, weil sie in der Regel mächtig genug sind, damit durchzukommen, sondern auch, weil viele von ihnen in erster Linie als Gelderzeugungs-Maschinen zum Nutzen ihrer Aktionäre geführt werden.
In den letzten Jahren haben viele große Unternehmen die Beschäftigungsbedingungen für „gering qualifizierte“ Arbeitskräfte erheblich verschlechtert. Indem sie die Löhne gesenkt und Familien so gezwungen haben, daneben staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sind sie einen Teil ihrer Kosten losgeworden, um ihre finanziellen Ergebnisse zu verbessern. Es muss nicht weiter erläutert werden, welche katastrophalen Folgen dies für das Wohlergehen vieler Einzelpersonen und Familien hatte. Und gerade eine Gesellschaft wie die USA, in der Millionen von Menschen keine finanziellen Rücklagen oder die Möglichkeit haben, im Krankheitsfall zu Hause zu bleiben, ist auf Pandemien wie das Coronavirus natürlich schlecht vorbereitet.
Es ist zu hoffen, dass der Wiederaufbau nach der Krise statt vom ungezügelten Streben nach Profit von einer gerechteren Bewertung von Arbeit geleitet werden wird. Dazu würden bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen für diejenigen gehören, deren Beiträge für unsere Gesellschaften lebenswichtig sind. Es würde auch bedeuten, dass das durch Geschlecht oder ethnische Herkunft definierte Lohngefälle zwischen unterschiedlichen Branchen beendet werden muss. Außerdem bedeutet es, den Arbeitnehmerinnen das Recht auf Mitbestimmung über die Organisation ihrer Arbeit zu geben.
Demokratisch organisierte Arbeit kann den Arbeitenden Raum geben, einen Beitrag zum Wohlergehen ihrer Gemeinschaften zu leisten. Viele Menschen wollen nicht nur ihr Einkommen maximieren und gleichzeitig ihre Arbeitszeit auf ein Minimum reduzieren, wie es die Arbeitsmarktmodelle nahelegen, die man in Ökonomie-Lehrbüchern findet. Arbeit wird von Menschen mit Träumen und Hoffnungen und dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung geleistet. Viele Menschen wollen durch ihre Arbeit einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten – und die Arbeit sollte so organisiert werden, dass dies gelingen kann.
Das bedeutet nicht, dass Arbeitsmärkte durch eine staatliche Planung der Arbeit ersetzt werden sollten. Aber es ist Regulierung nötig, um das Machtungleichgewicht zwischen großen Unternehmen und ihren Angestellten auszugleichen. Wir müssen als Gesellschaft auch überdenken, wie unsere Steuergelder verwendet werden sollen: Welche Aufgaben halten wir kurz- und langfristig für lebenswichtig? Schließlich sollte auch die Frage gestellt werden, wie die Arbeit auf demokratischere Weise organisiert werden kann, nicht nur, weil die Demokratie die beste Form der Kontrolle von Macht ist, sondern auch, weil sie einen besseren Schutz der Arbeitnehmerrechte ermöglicht. Deutschland steht in diesen Hinsichten im internationalen Vergleich relativ gut da und wird von progressiven Stimmen in den USA oder UK immer wieder als Vorbild genannt, doch dies heißt nicht, dass es nicht auch hierzulande Verbesserungsbedarf gäbe – gerade in vielen der Branchen, die durch die Krise gerade im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen.
Die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in den Supermärkten verdienen mehr als nur einen einmaligen Applaus; sie verdienen auch in normalen Zeiten die volle Anerkennung des von ihnen geleisteten Beitrags. Sie und viele andere Arbeitende, die wichtige, nicht rein in Geld ausdrückbare Beiträge zur Gesellschaft leisten, benötigen in diesen schwierigen Zeiten wirtschaftliche Unterstützung. Vor der Krise waren die Beiträge zur Gesellschaft, das Einkommen und der Status völlig voneinander getrennt – all dies war den Kräften der Arbeitsmärkte überlassen. Die Corona-Krise ist eine Gelegenheit, die Art und Weise zu überdenken, wie wir Arbeit bewerten, und unser Wirtschaftsleben nach der Krise auf andere Weise neu aufzubauen.
Lisa Herzog ist Professorin für Politische Philosophie an der Universität Groningen. Sie ist die Autorin von Die Rettung der Arbeit (2019). Bei der wbg erscheint von ihr 2020 Die Erfindung des Marktes. Smith, Hegel und die politische Philosophie.
Das englische Original dieses Artikels ist Teil der Agora-Serie, einer Zusammenarbeit zwischen dem New Statesman und Aaron James Wendland, Professor für Philosophie an der Higher School of Economics.