»Mephisto und die Reichsgründung« – Oliver F. R. Haardt über Otto von Bismarck

Im kommenden Januar jährt sich ein einschneidendes Ereignis der deutschen Geschichte zum 150. Mal: die Reichsgründung 1871. Oliver F. R. Haardt, Lumley Research Fellow in Geschichte am Magdalene College der Universität Cambridge, blickt in einem Beitrag in der wbg-Community auf Otto von Bismarck, der wie kein Zweiter mit diesem Ereignis assoziiert wird. Er wählt dabei den Zugang über eine französische Vorkriegskarikatur, die Bismarck als Fausts Mephisto darstellt. Lassen Sie sich diesen Beitrag des Autors von »Bismarcks ewiger Bund« nicht entgehen. 

Kurz nach dem Sieg Preußens über Österreich und der Gründung des Norddeutschen Bundes veröffentlichte der französische Illustrator Paul Hadol in der Satirezeitschrift Le Charivari im Mai 1867 eine überaus bemerkenswerte Zeichnung. Der junge Künstler, der sich wenige Jahre später mit seinen abfälligen Karikaturen über die in Ungnade gefallene Bonaparte-Familie einen Namen machte, verglich das preußische Vormachtstreben in Deutschland mit einer der Schlüsselszenen aus dem berühmtesten Drama der Weimarer Klassik. Die Zeichnung zeigt König Wilhelm von Preußen als „neuen Faust“, also als jenen innerlich zerrissenen Helden, der in seinem unbedingten Streben nach Erkenntnis und Glück einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Wilhelm umarmt Gretchen, das Objekt seiner Begierde. Entschlossen, sie zu küssen und zu verführen, fordert er sie auf, ihre Augen zu schließen. Bismarck nimmt derweil die Rolle des Teufels Mephisto ein. In eine Henkersuniform gekleidet, lenkt er Gretchens Nachbarin Frau Marthe ab, damit sie das Schäferstündchen, das gerade in ihrem Garten stattfindet, nicht unterbricht. Die ahnungslose alte Dame trägt einen kronenähnlichen Kopfschmuck und eine mittelalterliche Tunika. Dadurch ähnelt sie zeitgenössischen Darstellungen der Austria, der allegorischen Personifikation des Habsburgerreiches. Die Botschaft, die von der Zeichnung ausgeht, ist somit unmissverständlich: Bismarck hält Österreich beziehungsweise die großdeutsche Doktrin auf Distanz, damit die preußische Monarchie die unschuldigen deutschen Staaten dazu verführen kann, einen gemeinsamen Bund einzugehen.

Die Subtilität und der Nuancenreichtum der Karikatur sind typisch für die Bilddarstellungen, mit denen Satirekünstler überall in Europa die Umwälzung der deutschen politischen Landschaft in den 1860er Jahren begleiteten. Durch ihr besonderes Gespür für eigenwillige Strukturen, komische Proportionen und die manchmal fast dramatische Ironie, die sich auftat, wenn Anspruch und Wirklichkeit bei der Entstehung des deutschen Nationalstaates auseinanderklafften, entlarvten die Karikaturisten regelmäßig die Probleme und Motivationen, die unter der Oberfläche des Prozesses lagen, den wir heute „Reichsgründung“ nennen. So weist Hadols Zeichnung durch ihren Bezug zu Goethes 1808 veröffentlichten Tragödie, die zum Zeitpunkt des Deutsch-Deutschen Krieges von 1866 längst zu den Standardwerken der europäischen Literatur gehörte, gleich auf zwei wichtige Aspekte der preußischen Deutschlandpolitik hin. Der erste betrifft die relative Bedeutung von Person und Struktur. Die Karikatur gibt Bismarck die Rolle des Mephisto, den Goethes Drama als die Triebfeder alles menschlichen Seins, ja der Geschichte insgesamt beschreibt. Dadurch stellt sie ihn nicht nur – für eine Zeichnung aus der Hand eines französischen Patrioten wenig überraschend – als finsteren Dämonen dar, sondern auch als die treibende Kraft hinter der staatlichen Integration Deutschlands. Das Bild unterstreicht also die ganz besondere Rolle, die Bismarck in der Lösung der deutschen Frage spielte und aus der Nationalisten, die borussischen Geschichtsschreiber und spätere Generationen von Historikern die Legende vom „Reichsgründer“ machten, der den Nationalstaat praktisch in Eigenregie aus der Taufe hob. Heute schätzt man Bismarcks Bedeutung sehr viel differenzierter ein. Die Reichsgründung wird üblicherweise als das Ergebnis einer Mischung aus personenbezogenen und strukturellen Faktoren gesehen. Zu letzteren zählten zum Beispiel die wachsende Eigendynamik des Nationalismus oder das Drängen hin zu einem einheitlichen deutschen Markt, das sich aus dem langsamen Entstehen einer modernen Industriegesellschaft speiste. Von diesem Standpunkt aus erscheint Bismarck, wie Lothar Gall in seiner wegweisenden Biografie des „weißen Revolutionärs“ zusammengefasst hat, als ein „Mann der Zeit, der ihren Strömungen und vorherrschenden Tendenzen zum Durchbruch verhalf“. Der australische Historiker Christopher Clark benutzt in seiner Studie Von Zeit und Macht eine ähnliche, vom Reichsgründer selbst häufig verwendete Metapher. Für ihn ähnelte Bismarck einem „Steuermann im Strom der Zeit“. Der preußische Ministerpräsident sei kein absoluter Dominator der Geschichte gewesen, der die Umstände seines Handelns selbst bestimmte. Vielmehr habe er mit dem Genie des großen Staatsmannes versucht, die „Kräfte, deren Wechselwirkung angesichts einer unbekannten und unbegreiflichen Zukunft behutsam gesteuert werden musste“, in ein Gleichgewicht zu bringen, das das Überleben und die Vorherrschaft der preußischen Monarchie sicherte.

Der zweite Punkt, auf den die Karikatur hinweist, ist das Problem der geschichtlichen Kontinuität. Die Zeichnung will dem Betrachter vor Augen führen, dass die innerdeutschen Angelegenheiten gerade eine entscheidende Veränderung durchmachen. Das hat mit der Auswahl der Szene zu tun. Gretchens Verführung in Marthes Garten ist der Wendepunkt in Goethes Drama. Gretchen, vorher ein unschuldiges Mädchen, gesteht Faust ihre Liebe, obwohl sie instinktiv fühlt, dass er und sein Begleiter Mephisto nichts Gutes im Schilde führen. Von da an nimmt ihr Leben eine dramatische Wendung. Schritt für Schritt nähert sie sich dem Abgrund. Sie wird von ihrem Verführer schwanger, verliert ihren Verstand, ertränkt ihr neugeborenes Kind und wird zum Tode verurteilt. Nur die Gnade Gottes rettet ihre Seele schließlich. Dieser Vergleich lässt Preußens Sieg im Krieg von 1866 und die Gründung eines neuen deutschen Bundes ohne Österreich als schicksalhaften Bruch mit der Vergangenheit erscheinen, der schlimme Folgen für Deutschland haben und schließlich in einer Katastrophe enden werde – es sei denn, es käme zu einer göttlichen Intervention. Hinter dieser teleologischen und pessimistischen Sichtweise steckten sicherlich antipreußische Ressentiments, die in Frankreich in den 1860er Jahren desto stärker wurden, je enger sich die deutschen Einzelstaaten zusammenschlossen. Wichtiger als diese Voreingenommenheit ist allerdings das historische Bewusstsein, das in der Karikatur zum Ausdruck kommt. Die Zeichnung ist eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass der Ausschluss Österreichs aus Deutschland und die Errichtung einer preußisch-dominierten Staatsordnung als eine Veränderung von historischen Ausmaßen wahrgenommen wurden.

Gut anderthalb Jahrhunderte nach Hadols scharfsinniger Kritik besteht kein Zweifel daran, dass die Gründung des preußisch dominierten Nationalstaates tatsächlich ein entscheidender Wendepunkt in der deutschen Geschichte war. Darüber, wie dieser zu bewerten ist, streiten sich Historiker allerdings nach wie vor leidenschaftlich. In meinem Buch Bismarcks ewiger Bund habe ich den Versuch unternommen, diese Frage aus einer neuen Perspektive heraus zu beantworten, indem ich die Verfassung des Reiches als ein sich ständig wandelndes Kulturartefakt betrachtet und mich besonders auf dessen föderale Dimension konzentriert habe. Während der elf Jahre, die ich an dieser Studie gearbeitet habe, kam mir wiederholt Hadols Karikatur in den Sinn. Ich konnte nicht umhin, mich immer wieder zu fragen, inwiefern das, was ich in den Quellen las und anschließend auf Papier brachte, Bismarck als einen Teufel zeigte, der mit der Reichsgründung seinen größten Triumph feierte.

Wie auf alle Fragen, die sich auf die komplexe Geschichte des Kaiserreiches beziehen, gibt es auch auf diese keine klare Antwort. In der Geschichtsschreibung heißt es oft, dass Kaiserreich sei janusköpfig gewesen, habe also wie der gleichnamige römische Gott zwei Gesichter gehabt: Moderne und Anachronismus, Parlamentarismus und Monarchismus, Militarismus und Bürgertum. Aus meiner Sicht als Verfassungshistoriker trifft diese Mehrgesichtigkeit auch und ganz besonders auf die Reichsgründung und die Rolle zu, die Bismarck dabei spielte. Auf der einen Seite kann ich nicht anders, als die Originalität der Lösungen zu bewundern, die Bismarck bei der Erstellung der Reichsverfassung für die zentralen Probleme der Reichsgründung fand. Um die souveränen deutschen Einzelstaaten in einen engeren nationalstaatliche Bund zu überführen, Preußen dabei eine Vorrangstellung zu geben und durch diese „Revolution von oben“ das monarchische Prinzip zu stärken, gleichzeitig aber nicht die liberale Nationalbewegung zu verprellen, entwickelte er eine Verfassungsordnung, die keine gesamtstaatliche Regierung kannte, den Bundesrat zum zentralen Entscheidungsorgan machte, die Gesamtheit der einzelstaatlichen Monarchen zum Souverän des Reiches erklärte, die Rolle des Kaisers auf die eines primus inter pares unter den Bundesfürsten beschränkte, den Reichstag geschickt einhegte und Elsaß-Lothringen als einen Fremdkörper im föderalen Gefüge des Reiches unter Zentralverwaltung stellte. Auf der anderen Seite muss ich aber auch feststellen, dass Bismarcks Verfassung ein undurchsichtiges Dickicht aus vagen Regularien war, die gegen die aufstrebenden Kräfte des Parlamentarismus gerichtet waren und der Regierungsordnung nur wenig Stabilität boten. Ohne die Autorität ihres Urhebers war dieses Ungetüm kaum zu koordinieren und geriet dementsprechend schnell in schweres Fahrwasser, nachdem der Lotse 1890 vom neuen kaiserlichen Kapitän von Bord des Staatsschiffes geschickt worden war. Anders gesagt: Auch wenn sich einige Teile des föderalen Verfassungserbgutes des Reiches bis heute halten, ging Bismarcks angeblich „ewiger Bund“ langfristig im Strom der Zeit unter.

Angesichts dieser Gegensätze ist es schwierig, ein eindeutiges Urteil über die Vorgänge der Reichsgründung und ihren wichtigsten Strippenzieher zu fällen. Nach der Fertigstellung meines Buches scheint mir Hadols Charakterisierung Bismarcks aber zumindest insofern gerechtfertigt, als dass wir den Mephisto der Reichsgründung tatsächlich nur verstehen können, wenn wir ihn als eine sich allen konventionellen Kategorien entziehende Triebfeder hinter dem staatlichen Wandel Deutschlands begreifen, die wir nur im Lichte dessen bewerten können, was sie zustande brachte. Eben über dieses Werk, das die Person in den Hintergrund treten lässt – sprich: über das ruhelose Reich, dem der vermeintliche „Reichsgründer“ ins Leben half – werden die Meinungen aber immer auseinandergehen. Das bedingt schon allein der verschlungene, mit unsagbaren Schrecken gepflasterte Pfad, den der deutsche Nationalstaat seit seiner Gründung 1871 genommen hat. Der Diskussion darüber mit meinem Buch neue Anstöße zu geben und dadurch dazu beizutragen, des Pudels Kern ein Stück weiter freizulegen, ist mir Freude und Ehre zugleich.

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Tags: wbg, Community
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