Nazijäger und Nazi-Täter

D. Zimmermann: Lieber David Marwell, auf einem Foto in Ihrem jüngsten Buch sieht man Sie auf einem Foto aus dem Jahr 1986 im Dienst des US-Justizministeriums auf Recherchereise in Sāo Paulo. Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem NS-Arzt Josef Mengele?

David Marwell: Ja, dieses Foto dokumentiert eine wichtige und für mich sehr spannende Phase unserer Untersuchung, bei der es um eine geheime Mission nach Brasilien mit deutschen und israelischen Kollegen ging. Zu Ihrer Frage: Obwohl ich schon in meiner Kindheit von Mengele und seinen Vergehen in Auschwitz gehört hatte, wurde er erst zum intensiven Fokus meiner Arbeit, als ich Anfang 1985 den Untersuchungen des Office of Special Investigations im US-Justizministerium zugeteilt wurde, wo ich als Historiker arbeitete. Ursprünglich waren wir damit beauftragt, Behauptungen zu untersuchen, dass Mengele nach dem Krieg für die Amerikaner gearbeitet haben könnte und von ihnen unterstützt wurde, aber die Untersuchung weitete sich bald auf den Auftrag aus, ihn zu finden und vor Gericht zu stellen. In diesem Bemühen wurden wir bald von den Regierungen Deutschlands und Israels unterstützt.

D. Zimmermann: Als das Team internationaler Spezialisten den als Kriegsverbrecher gesuchten Mengele schließlich 1985 in Brasilien aufspürte, war er bereits sechs Jahre tot. Dabei gab es all die Jahrzehnte nach Kriegsende durchaus Kontakte von ihm nach Deutschland. Wer, meinen Sie, wusste in Deutschland - außer seiner Familie - von seinem Untertauchen in Südamerika?

David Marwell: Nun, Mengeles Anwesenheit in Südamerika war sowohl bei Einzelpersonen in Deutschland als auch bei deutschen Institutionen relativ gut bekannt. Viele in Mengeles Heimatstadt Günzburg lebende Personen wussten, dass der älteste Sohn der prominentesten Familie der Stadt in Südamerika lebte. Enge Vertraute der Familie halfen dabei, Mengele mit Geldmitteln zu versorgen und einen sicheren Kommunikationsweg zwischen dem Flüchtigen und seiner Familie zu ermöglichen. Auch die deutschen Behörden waren informiert. Als Mengeles erste Frau im März 1954 die Scheidung einreichte, wurde in den Unterlagen, die sie beim Gericht in Düsseldorf einreichte, angegeben, dass Mengele 1948 "nach Argentinien ausgewandert" sei (tatsächlich war es 1949). Wir wissen auch, dass Mengele im September 1956 bei der deutschen Botschaft in Buenos Aires einen Reisepass beantragte und offenbarte, dass er seit seiner Ankunft in Argentinien unter einem falschen Namen lebte. Es wurde ihm ein deutscher Pass unter seinem richtigen Namen ausgestellt. Im Sommer 1958 wussten deutsche Justiz- und Polizeibeamte von Mengeles Anwesenheit in Argentinien; die Staatsanwaltschaft in Freiburg stellte im Februar 1959 einen Haftbefehl gegen ihn aus, und die deutsche Regierung bemühte sich um seine Auslieferung aus Argentinien, die schließlich im Juni 1960 von den Argentiniern genehmigt wurde - lange nachdem er das Land verlassen hatte.

D. Z. Sie sind der ehemaliger Direktor des Museum of Jewish Heritage in New York und haben unter anderem am United States Holocaust Memorial Museum in Washington gearbeitet, waren unter anderem Direktor des Document Center in Berlin wirkten als Chief of Investigative Research im Office of Special Investigations des Justizministeriums der Vereinigten Staaten. Alles Institutionen, in denen man sich intensiv mit dem Holocaust und seinem nachleben beschäftigt. Ist die Geschichte des Josef Mengele auserzählt, oder glauben Sie, dass sich in den Archiven noch neue Spuren finden lassen, etwa zu seiner Flucht aus Europa?

David Marwell: Ein guter Forscher ist nie sicher, dass er alle relevanten Aufzeichnungen gefunden hat, und im Fall von Mengele wäre es besonders riskant zu behaupten, dies getan zu haben. Ich würde jedoch behaupten, dass relevante Aufzeichnungen weniger wahrscheinlich in Archiven als in privaten Händen zu finden sind. Ich war überrascht zu entdecken, dass die Akten des Hessischen Landeskriminalamtes und der Frankfurter Staatsanwaltschaft, die Mengele betreffen, den Forschern zur Verfügung stehen, im Gegensatz zu denen meines eigenen Büros im Justizministerium. Tatsächlich konnte ich viele meiner eigenen Memoranden, die mir in den USA nicht zur Verfügung standen, in deutscher Übersetzung im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden finden! Es ist natürlich möglich, dass es noch relevante Aufzeichnungen des deutschen Geheimdienstes gibt, die nicht verfügbar sind. Ich hatte das Glück, dass der Mossad sich im September 2017 entschlossen hat, sehr wichtige Unterlagen über Mengele freizugeben. Dennoch denke ich, dass Aufzeichnungen in privaten Händen die spannendsten Aussichten bieten. Einige Möglichkeiten: Ich schreibe in meinem Buch über den autobiografischen Roman, den Mengele für seine Familie geschrieben hatte. Wir wissen nicht, ob er auch Passagen über Auschwitz enthielt, aber falls ja, ist er nicht aufgetaucht. Innerhalb des letzten Jahrzehnts wurden fünf Briefe von Mengele an seine Frau versteigert, vermutlich von der Familie oder jemandem, der ihr nahesteht. Gibt es noch mehr solcher Briefe? Außerdem bin ich mir sicher, dass Leute, die mit Mengele als Kollegen im Medizinstudium, am Frankfurter Institut, in seiner Militäreinheit und in Auschwitz gedient haben, ihn und seine Aktivitäten sehr wahrscheinlich, wenn auch nur en passant, in ihrem eigenen Brief an ihre Familien erwähnt haben.

D.Z.: Lieber Herr Marwell, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!

 



David G. Marwell (* 1951) war Direktor des Museum of Jewish Heritage sowie Präsident des Leo Baeck-Institut New York/Berlin. Vor seiner Arbeit im United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. war der Zeithistoriker Direktor des Document Center in Berlin und des JFK Assassination Records Review Board und arbeitete im Office of Special Investigations des US-Justizministeriums. In dieser Position war Marwell verantwortlich für die Durchführung von historischer und forensischer Forschung zur Unterstützung der Strafverfolgung nationalsozialistischer Kriegsverbrecher, unter anderem für die Fälle Klaus Barbie und Josef Mengele.

Tags: wbg, Geschichte
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