»Offene Wunden Osteuropas« gewinnt den Bayerischen Sachbuchpreis

Katja Makhotina und Franziska Davies liefern mit ihrer „Reise zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“ ein beeindruckendes Plädoyer für eine lebendige Erinnerungskultur. Dafür wurden sie mit dem Bayerischen Sachbuchpreis 2022 ausgezeichnet.

»Um den Osten Europas zu begreifen, muss man seine Geschichte kennen. Aber was wissen wir von den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg?« Diese Frage stellte Sonja Zekri, Feuilleton-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung und Mitglied der Jury für den bayerischen Sachbuchpreis anlässlich der Nominierung von »Offene Wunden Osteuropas«. Die Antwort lautet – so stellte sich auch in der Jury-Diskussion heraus – erstaunlich wenig. Die deutsche Erinnerungskultur konzentriert sich auf einige wenige »zentrale« Erinnerungsorte wie Auschwitz oder den Aufstand im Warschauer Ghetto. Das Massaker von Babyn Jar ist schon weniger bekannt, wird jedoch inzwischen immer wieder auch von deutschen Medien thematisiert. Ähnliches gilt für Chatyn. Doch wem sagen die Namen der »Feuerdörfer« Pirčiupis oder Korjukiwka etwas?

Derartige Wissenslücken wollen die beiden »erinnerungskulturellen Aktivistinnen« Katja Makhotina und Franziska Davies schließen. Dazu sind sie durch Belarus, die Ukraine, Litauen, Polen und Russland gereist und haben mit den letzten noch lebenden Zeitzeugen gesprochen. An Stelle der weit verbreiteten homogenen Darstellung der deutschen Verbrechen in Osteuropa zeichnen sie ein differenzierteres Bild, das die Vielfältigkeit der Erinnerungen betont. Auch die doppelte Besatzung in der heutigen Westukraine – erst durch die Sowjetunion, dann durch Nazideutschland – spielt dabei eine Rolle.

Kurz vor der Veröffentlichung bekam »Offene Wunden Osteuropas« durch den russischen Angriffskrieg noch eine ganz neue, traurige Aktualität. Teile des Buches mussten komplett neu geschrieben werden, um der veränderten Lage gerecht zu werden. So ist aus dem Werk neben einer Dokumentation der – vor allem deutschen – Verbrechen des Zweiten Weltkriegs ein leidenschaftliches Plädoyer für eine neue, lebendige Erinnerungskultur geworden.

Dass die Stimmen der Überlebenden nun Gehör fänden, grenze an ein Wunder, so Katja Makhotina bei der Preisverleihung. Denn oft sei das Problem nicht nur, dass man sehr wenig wisse, sondern vor allem die Frage: »Wollen wir das überhaupt wissen?« Genau diese Frage spiele eben auch in Bezug auf die aktuellen Ereignisse in der Ukraine eine wichtige Rolle, so Franziska Davies. Das immer wieder postulierte »Nie wieder!« dürfe sich nicht auf ritualisierte Kranzniederlegungen an Gedenkstätten und betroffene Reden beschränken, sondern müsse eine Relevanz für unser heutiges Handeln bekommen. Konkret bedeute das, nicht wegzuschauen, wenn ein Land, wie seit Februar 2022 die Ukraine, überfallen werde, sondern zu den Menschen in diesem Land zu stehen und sie zu unterstützen.

 

Franziska Davies (links) und Katja Makhotina (rechts) bei der Preisverleihung. (Foto: Yves Krier)

 

Dementsprechend haben sich die beiden Autorinnen seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine immer wieder für Solidarität mit der Ukraine eingesetzt. Die Aufrufe diverser deutscher Intellektueller zu Friedensverhandlungen seien in Polen auf absolutes Unverständnis gestoßen, so Davies, da man dort aus bitterer Erfahrung wisse, dass man mit einem Feind, der einen vernichten will, nicht verhandeln könne.

Dass derartige Kritik jedoch nicht von allen angenommen wird, musste Franziska Davies kürzlich feststellen. Auf Davies‘ Vorwurf an die Autorin und ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, sie sei eine „langjährige und vehemente Verteidigerin des verbrecherischen Putin-Regimes“ und habe in Bezug auf die Besetzung der Krim 2014 wahrheitswidrig behauptet, es sei zu keinerlei Menschenrechtsverletzungen gekommen, reagierte Krone-Schmalz mit einer Unterlassungsklage und der Forderung nach 2.500 € Schadenersatz. Davies Anwälte sind jedoch zuversichtlich, dass ihre Äußerungen von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Für Krone-Schmalz Äußerungen gebe es zudem Zeugen.

 

Über das Buch »Offenen Wunden Osteuropas«

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist das Fundament unseres freien, geeinten Europas und prägt unsere gemeinsame Gegenwart und Zukunft. Franziska Davies und Katja Makhotina bereisten immer wieder zahlreiche Stätten Osteuropas, an denen deutsche Soldaten oft vergessene Kriegsverbrechen begingen. Mit Fakten, Rückgriffen auf ihre Familiengeschichten und in Gesprächen mit Überlebenden, Studierenden und Historikern veranschaulichen sie die Dimensionen des Vernichtungskriegs.

Ihr Buch zeigt nachdrücklich, warum wir die Verbrechen der Wehrmacht und die Opfer des Krieges im Gedächtnis behalten müssen - gerade jetzt, wo mit Russlands Angriff auf die Ukraine ein neuer Krieg Europa erschüttert!

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Weiterführende Links

Dr. Franziska Davies und Dr. Katja Makhotina im wbg-Podcast
Mehr Bücher zum Krieg in der Ukraine
Blogbeitrag von Dr. Franziska Davies und Dr. Katja Makhotina
Buchbesprechung im Deutschlandfunk

 

Zu den Beteiligten

Dr. Franziska Davies ist in Düsseldorf geboren. Sie wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert, wo sie Osteuropäische Geschichte lehrt. Zu ihren Forschungs- und Publikationsschwerpunkten zählt die moderne Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine.

 

Dr. Katja Makhotina ist in St. Petersburg geboren, promovierte in München und lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn. Mit ihren Studierenden erforscht sie seit Jahren lokale Erinnerung an die osteuropäischen Opfer in Deutschland und engagiert sich in der Gedenkstättenarbeit.

 

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  • Verdiente Auszeichnung für ein einmaliges und wichtiges, sehr gut lesbares  Buch

    Mich hat die Vergabe des bayerischen Sachbuchpreises 2022 an Katja Makhotina und Franziska Davies sehr gefreut. Das Buch hat mir im Frühjahr dieses Jahres  mit großer Eindringlichkeit eine Tür zur Geschichte der „Bloodlands“ aufgestoßen, deren Ausmaße mir bis dato so nicht bewusst waren. Ich habe von Orten erfahren, deren Namen ich noch nie gehört habe (obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen beschäftige). Ich habe Zeitzeugenaussagen gelesen, die mich mit ihrer Wucht so erschütterten, dass ich Lesepausen einlegen musste. Und ich habe durch das Buch ein Gefühl und ein Verständnis für das bekommen, was seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nur wenige Kilometer von uns entfernt passiert. 

    Ich hoffe so sehr, dass das Buch durch den Preis und die daraus resultierende öffentliche Aufmerksamkeit noch einmal einen „Leseschub“ bekommt. Das Erinnern ist für mich der Schlüssel zu verantwortungsvollem und überlegtem Handeln. Und wenn das Gelesene mit erlaufbaren, erspürbaren Orten in Verbindung gebracht werden kann, so wie es mir im September diesen Jahres in Auschwitz und Auschwitz-Birkenau erging, verfestigt sich das Wissen um das Geschehene mit einer Kraft, die jeder Relativierung oder Infragestellung von Fakten und Ereignissen trotzen wird. 

    In diesem Sinne: Ein großer Dank an die Jury für ihr Votum! Und vor allem herzliche Gratulation an die beiden Autorinnen Franziska Davies und Katja Makhotina, denen ein einmaliges und wichtiges, sehr gut lesbares  Buch gelungen ist. 

  • Tiefer Eindruck

    Das Buch habe ich bereits kurz nach seinem Erscheinen gelesen, und es hat großen Eindruck hinterlassen. Die ganze Thematik begleitet mich seit Jahrzehnten, also alles was mit NS zu tun hat, Verfolgung, Weltkrieg, Vernichtung usw., trifft bei mir auf großes Interesse und wird auch entsprechend nachverfolgt und studiert. " Offene Wunden Osteuropas " bringt einem das ganze Grauen und die ganze Perversion der primitiven NS-Ideologie und ihrer Folgen und Auswüchse nocheinmal in einer Eindringlichkeit nahe, die berührt. Ein gelungenes Buch, dem ich viele Leser wünsche.
    Einen Kritikpunkt gibt es jedoch, das elende und überflüssige " Gegendere " macht das Lesen nicht gerade einfach, der Umfang des Buches ließe sich ordentlich reduzieren.

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