Plotin und das Böse

Der Enneade I,8 von Plotin, in welcher die Herkunft und das Wesen des Bösen versucht wird zu begründen, hatte sich der britische Philosoph Dominic O´Meara bereits vor einigen Jahren in einem lesenswerten Aufsatz gewidmet. Kritiker Plotins gab und gäbe es genügend, so galt bereits Proklos als entschiedener Zweifler, ja Gegner Plotins in seinen Ansichten über das Böse, obwohl - oder gerade da - er selbst Neuplatoniker war. Daher hat sich O´Meara in dessen Aufsatz über das Böse bei Plotin die Aufgabe gestellt, die plotinischen Thesen über das Böse zu untersuchen und gegebenenfalls die Schlüssigkeit herauszukristallisieren.

O´Meara sieht in den Ansichten Plotins über das Böse interessante und auch im Grunde logische Theorien. Er räumt zwar ein, dass jene Überlegungen Plotins z.T. unlogisch erscheinen könnten und somit umso schwerer nachvollziehbar wären, doch diese wirke nur auf dem ersten Blick so. Es sei eben möglich jene Logik fast aller plotinischen Thesen durch eine intensivere Untersuchung belegen zu können. 

Die verschiedenen Arten des Bösen bei Plotin seien das „moralische“ Böse (z.B. menschliche Laster) und das „natürliche“ Böse (z.B. Katastrophen, Tod, usw.), doch sei die Materie bei Plotin die Grundform des Bösen und das moralische und natürliche Böse sei nur zweitrangig und von der Materie abhängig. Die Materie sei aber nicht im Sinne Aristoteles´ als Stoff der Dinge zu sehen, sondern es sei ein ungestaltbarer Hintergrund vor den Gestalten der sinnlichen Welt.

Plotin verstehe die Materie als das metaphysische Böse aufgrund der Unvereinbarkeit bzw. der Trennung zum moralischem wie natürlichem Bösen, d.h., es besteht ein definitiver Unterschied zwischen dem metaphysischen Bösen und dem moralischen wie natürlichen Bösen.

Die zwei Hauptfragen / Hauptprobleme, die nun zu klären seien, sind zum einen die Beziehung zwischen dem primären Bösen (Materie) und dem sekundären Bösen („moralisches“ und „natürliches“ Böse) und zum zweiten die Entstehung des metaphysischen Bösen aus dem Guten.

Bei Plotin habe Alles seinen Ursprung in dem Guten und dieses schließe das metaphysische Böse, die Materie, mit ein.

Für O´Meara ist dieser Zusammenhang einer der problematischsten Thesen Plotins aufgrund der mit dem Guten verbundene Produktivität. Wie könnte das Böse seinen Ursprung im Guten haben? O´Meara formuliert daher zwei grundlegende Thesen zur plotinischen Sicht auf das metaphysische Böse

Erste These: Das moralische Böse ist ohne das metaphysische Bösen unerklärbar

Plotin sehe diese Verbindung zwischen moralischem Bösen und transzendentalem Bösen („transzendental“ hier als unabhängig / Abgrenzung) auch in der Verbindung vom moralischen Guten (Tugend) und transzendentalem Guten. Das moralische Gute setze das transzendentale Gute voraus. Dieses bedeute bei Plotin eine Relativität zwischen moralischem Guten und transzendentalem Guten eines Musters nach. Es seien die Tugenden oder Laster, welche sich nach einem Muster richten. Die Grundformen des Guten sowie des Bösen seien genau jene Muster, an welchen sich die moralischen Formen richten und sich ihnen annähern, ohne aber dabei das Muster selbst zu sein. Es sei lediglich das Ziel der moralischen Formen.

Im Bereich des Guten werde dieses auch von Kritikern (insbesondere von Proklos) akzeptiert, allerdings werde nicht nur bestritten, dass das moralische Böse ein transzendentales Böses voraussetzt, sondern sogar die Existenz eines transzendentalem Bösen an sich. Als Grund wird die Unerkennbarkeit des transzendentalen Bösen in Form der undeterminierbaren Materie genannt. Wie soll das Böse, wenn es eben unerkennbar und undeterminierbar ist, als ein Muster fungieren?

O´Meara liefert folgenden Lösungsansatz: Plotin sehe moralische Schlechtigkeit in der Abweichung vom Maß der Tugend. Außerdem könne durch die absolute Verneinung der Eigenschaften des Guten ein Begriff für das transzendentale Böse entwickelt werden. Doch dieses sei nur die Lösung des einen Problems, denn eine vergleichende Relativität moralischer Güte zum einen und moralischer Bosheit zum anderen wird von Proklos verneint. Es könne Proklos nach bei moralischer Bosheit kein Muster bzw. transzendentales Böse geben. Ein Muster beim Guten sei durch Ähnlichkeit der positiven Eigenschaften untereinander erkennbar. Diese Gemeinsamkeit der Tugenden sei eine plausible Begründung für die Existenz eines transzendentalen Guten. Doch nach Proklos gebe es keine Gemeinsamkeit bei negativen Eigenschaften, welche einem Muster folgen. Das moralische Böse sei also nicht auf ein transzendentales Böses zurückzuführen.

Doch O´Meara bleibt dabei: jene plotinische These bliebe logisch, denn das moralische Böse bei Plotin sei demnach ursprünglich nicht in den verschiedenen Arten des Bösen zu verstehen, sondern in einer ursprünglichen Einheit. Aus dieser Einheit heraus entstehe dann eine Vielfalt moralischer Bosheit aufgrund von vielfältigen Umständen sowie von vielfältigen seelischen Eigenschaften bzw. diese werde vermittelt. Um Proklos´ Ansichten zu widersprechen, begründet O´Meara darüber hinaus die Relativität des moralischen Bösen zum transzendentalen Bösen und dessen Existenz mit der Korrelativität der Begriffe „gut“ und „böse“ im moralischen Bereich. Der Sinn dieser Begriffe liege eben darin, dass beide eine Gleichberechtigung in moralischer Hinsicht haben. Der Begriff „böse“ könne nicht eine andere Wertstellung haben als der Begriff „gut“. Somit könne keine Relativität zwischen moralischem Guten und transzendentalem Guten bestehen, wenn es nicht auch die gleiche Relativität bei dem Bösen gebe. Des Weiteren sehe Plotin in dem Menschen nicht den Ursprung des Bösen, sondern in der Materie. Die Schwachheit der Seele, welche durch die Materie oder in diesem Falle den Körper hervorgebracht wird, liege nicht in einer Verminderung der Natur der Seele. Es werde vielmehr der Seele durch die Materie entgegengewirkt, sodass sie nicht mehr in eigentlicher Gutheit funktioniere und vom Bösen „infiziert“ werde.

Dieses sei nach O´Meara die Bestätigung der Eingangsthese. Moralisches Böse käme nicht vom Menschen selbst, sondern die menschliche Seele werde von der Materie sozusagen unterwandert und könne so nicht alleine dem Guten verbunden sein, sondern sei dadurch auch dem Bösen verbunden. Hierbei sei auch jener plotinische Gedanke relevant, dass die Existenz des Bösen selbst wie dessen verschiedenen Formen immer ein Mangel an Gutem bedeute bzw. voraussetze.

Zweite These: Die körperliche Welt setzt das metaphysische Böse voraus

Die plotinische These, dass die körperliche Welt das metaphysische Böse voraussetzt, werde durch mehrere Argumente zu belegen versucht.

Argument 1 - Theorie des „In-Ordnung-Bringens“

Nach O´Meara verwende Plotin als Argument für die Eingangsthese einen Gedanken aus Platons „Timaios“. Dort bestehe die sinnliche Welt aus der Vernunft der Notwendigkeit. Plotin sehe auf der einen Seite in der Vernunft die Seele sowie die Form und auf der anderen Seite in der Notwendigkeit (im Sinne eines dem Zwang unterliegenden) und der „Un- bzw. Nichtform“ die Materie und aufgrund dieser beiden unterschiedlichen Seiten verstehe Plotin den Gegensatz zwischen Gut und Böse als Grundlage der sinnlichen Welt. Proklos jedoch werfe Plotin mit Hinblick auf jenen Vergleich ein falsches Verständnis des platonischen Timaios vor, da jene Formlosigkeit der Materie ein Verlangen nach Form sei und eben keine Verneinung der Form und somit des Guten.

Festzuhalten ist hierbei, dass auf der einen Seite der Gedanke Plotins von den gegensätzlichen Kräften von Gut und Böse als Grundlage der Welt steht und auf der anderen Seite Proklos´ These, dass eben keine Gegensätzlichkeit besteht aufgrund des Verlangens der Formlosigkeit nach Form, d.h. die Formlosigkeit und damit das Böse besitze eine Selbstständigkeit sowie ein eigenes Streben zur Form bzw. zum Guten hin. O´Meara sieht in diesem Aspekt eher Plotin als Proklos im Recht, denn auch für ihn geht es im Timaios um das Prinzip eines In-Ordnung-Bringens von Unordnung und damit um eine „von oben“ gelenkte Weltengeburt. Diese Ordnung enthalte den Gedanken einer Staatenlenkung, in welcher der beste Herrscher (vergleichend das Gute) gegen das Chaos und gegen Zerstörung ankämpft (vergleichend das Böse). Dieser Gegensatz zwischen Gut und Böse entspreche somit besser dem Gedanken Platons im Timaios als die kritische Auffassung Proklos.

Argument 2 - Theorie der Ableitung

Im zweiten Schritt geht O´Meara auf die Ableitungstheorie Plotins ein. Diese besage, dass bei der Entstehung der gesamten Wirklichkeit das absolute Gute an erster Stelle steht. Darauf folge ein Zweites, ein Drittes und irgendwann müsse es auch einen Endpunkt geben. Dieser Endpunkt in der Wirklichkeit sei für Plotin die Materie und damit das absolute Böse. Doch sogar O´Meara sieht diese Theorie als problematisch an und behauptet, dass beide Theorien, die des In-Ordnung-Bringens und die der Ableitung, nicht gleichzeitig bestehen könnten. Das Problem liege nunmehr darin, dass bei der Theorie des In Ordnung-Bringens das Gute und das Böse zwei voneinander getrennte und entgegengesetzte Dinge sind, während in der Ableitungstheorie am Anfang das Gute steht und aus diesem schließlich das Böse abgeleitet wird. Für Plotin sei nach O´Meara aber die Ableitungstheorie die bevorzugte der beiden gewesen und er habe deswegen beide aufgeführt, um die Eingangsthese einer Notwendigkeit des metaphysischen Bösen zu stärken.

Fazit?

O´Meara steht gerade der von Plotin favorisierten Ableitungstheorie kritisch gegenüber, da der plotische Gedanke nicht schlüssig sei, weshalb aus einer Ableitung vom absoluten Guten letztendlich das absolute Böse stehe, warum kein „letztes Echo des Guten“ und warum diese Ableitung überhaupt zu einem Ende kommen müsse? Proklos sehe ebenfalls eine Unvereinbarkeit beider Theorien, da auf der einen Seite das Gute und das Böse als voneinander getrennt stehen und auf der anderen Seite das Gute das Böse erschafft. Proklos, bekannt durch seine Gedanken zur Kausalität, versuche nun die Ableitungstheorie durch einen doppelten Widerspruch außer Kraft zu setzen: 

Axiom 1: „Indem (...) in jeder Art die erste Ursache mehr ist als das, was ihre Produkte in dieser Art sind (...) also die Ursache des Bösen muss ein größeres Böses sein“

Axiom 2: „Indem (...) jedes Produkt sich seiner Ursache angleicht (...) also das Böse gleicht sich Guten an“

Nach O´Meara wäre das zweite Axiom in dieser Anwendung für Plotin nicht annehmbar, da eine Angleichung zwischen Materie und dem Guten unmöglich bzw. nicht „verträglich“ sei, aber gerade das erste Axiom könne als Kritik an Plotins Ableitungstheorie nicht verleugnet werden und sei in der Tat ein wichtiger Aspekt.

O´Meara hält für sich fest, dass Plotin sich für eine seiner Theorien hätte entscheiden müssen: Entweder für die des In-Ordnung-Bringens oder die der Ableitung. Nicht zuletzt aufgrund der Unverträglichkeit beider Theorien bleibe auch Proklos bei seiner Auffassung, dass es kein metaphysisches Böse im plotinischen Sinne gäbe.

Als Bilanz der Untersuchung der plotinischen Gedankens sieht O´Meara die Relativität zwischen moralischen Bösen und metaphysischen Bösen als die gelungenste Plotins. Es sei schlüssig, welche Verbindung zwischen dem moralischen Bösen durch die Idee einer unmittelbaren Erfahrung mit dem absoluten Bösen entstehe. Doch scheitere Plotin mit der Einbindung des absoluten Bösen in der Ableitung vom Guten. Dieses sei eben nicht schlüssig und deswegen auch von Proklos zu Recht verneint worden. Es sei nur möglich, dass alles vom Guten stamme und dadurch das metaphysische Böse nicht existiere, da es nicht vom Guten stammen könne. Zu Verdeutlichung bzw. als fiktive Alternative nennt O´Meara das Gegenteil: würde das Böse existieren, könne die Wirklichkeit nicht aus dem Guten entstanden sein.

 

Von Thorsten Jacob

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