Prof. Hubert Wolf: Corona-Virus in den vatikanischen Archiven

„Im Juni 1942 wurden hierher über 5.000 Juden deportiert: heute sind wir kaum 700 Seelen, darunter über 100 Kinder, die noch immer auf Erlösung warten. Wir wurden nicht als politisch Verdächtige deportiert … Nach Abzug der rumänischen Behörden werden wir alle der letzten deutschen Vernichtungstruppe ausgeliefert. Wir kennen genau unsere Todesart. Einpferchung unter Stacheldraht, selbstgegrabene Massengräber, die Kinder vorerst lebend hineingeworfen, die Erwachsenen unter Kolbenhieben splitternackt ausgezogen und hinein ins Grab, ein paar Kugeln nachgeknallt. Es macht nichts, wenn man nicht gleich getroffen wird: man wird eh von den nächsten Menschenleibern erdrückt. Es gibt kein Entrinnen; stumpf wie das Schlachtvieh lassen wir uns ‚umlegen‘. Lange genug bewegt sich die Erde, bis wir alle erstickt sind. Dann ist endgültig Schluss. … Ein Schrei aus tiefster Todesangst gellt heute zu Euch hinüber – werdet nicht mitschuldig an unserem Tode.“

Am 6. März 2020 sitze ich im Lesesaal des Vatikanischen Apostolischen Archivs, es ist halb elf Uhr. Ich lese gerade diesen furchtbaren Bericht eines Augenzeugen. Er schrieb aus dem Ort Tulcin am Bug. Der Bericht trägt kein Datum, dürfte aber auf den Winter 1942/43 zu datieren sein. Vor mir liegt eine große Schachtel mit Unterlagen aus dem Archiv der Päpstlichen Nuntiatur in Bukarest. Nuntius Andrea Cassulo hatte in dieser Schachtel zahlreiche Schreiben, Berichte und andere Unterlagen zum Thema „Ebrei“ (Juden) aus den Jahren in einer Art Sammelakte aus 1940 bis 1945 abgelegt. Und ich bin der erste Forscher, der diese Quellen, in denen es vorwiegend um die Ermordung von über 150.000 Juden im Gouvernement Transnistrien geht, studieren kann!

Dann vibriert mein Handy kurz, eine Nachricht geht ein. Ich schaue drauf. Ein Mitarbeiter, der zweihundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Damasushofes im Archiv des Staatssekretariats arbeitet, schreibt: „Wir müssen hier raus. Archiv macht um 11 Uhr dicht. Erster Coronafall in der Kurie.“ Schock! Was heißt das? Nur Staatssekretariat zu oder alle Archive des Vatikans? Ich gehe mit den übrigen Mitarbeitern auf einen Espresso in die vatikanische Bar, die zwischen dem Archiv und der Bibliothek in einer profanierten Kapelle untergebracht ist. Der Kaffee ist gut wie immer. Die Gespräche ernst. Was tun? Zuerst höflich nachfragen, dann weitersehen?

Ich gehe zum Chef der Aufsichtsbeamten im Benutzersaal. Er hat keine Ahnung, und von der Entscheidung des Nachbararchivs nichts gehört. Das Vatikanische Archiv würde offenbleiben. Es sei noch nie geschlossen worden. Wo käme man da hin? Und fünf Tage nach dieser historischen Archivöffnung ohnehin nicht. Typisch vatikanischer Kompetenzwirrwarr, denken wir. Gut für uns, wenn das Geheimarchiv zugänglich bleibt. Jeder geht wieder zu seinem Tisch und seinen Akten. Es ist sehr unruhig, obwohl der Lesesaal nur wenig besucht ist. Die Kollegen aus USA und Israel konnten wegen Corona gar nicht erst anreisen. Eine Stunde später wird dann ein offizielles Schreiben des Präfekten, auf Italienisch und Englisch verfasst, an jeden Benutzer verteilt. Die Botschaft klar: Auch das Vatikanische Archiv schließt heute Abend um fünf Uhr auf unbestimmte Zeit.

Erneutes Krisengespräch, diesmal im Innenhof. Wir legen fest, was unbedingt noch exzerpiert und abgeschrieben werden muss, damit wir zuhause weiterarbeiten können. Unsere Funde müssen in Münster mit bereits publizierten Quellen und der einschlägigen Literatur abgeglichen werden. Das müsste auch in einem möglichen Corona bedingten Homeoffice funktionieren. An diesem Freitagabend um 17 Uhr verlassen wir traurig das Archiv – nicht wissend, wann wir wiederkommen dürfen – und an der Porta Santa Anna reisen wir nach einem kurzen Schwatz mit einem freundlichen Schweizer Gardisten wieder aus dem Vatikanstaat aus und in die Republik Italien ein. In Rom sind wenigstens die Restaurants noch offen. Ein schönes Abschiedsessen, Artischocken, Pasta und Fisch und eine gepflegte Flasche Wein sind noch drin. Wir haben auch kurzfristig Flugtickets bekommen, um aus Italien rauszukommen.

Doch die Enttäuschung war groß bei mir und meinen Mitarbeitern an jenem 6. März und ist es bis heute. Denn wenige Tage zuvor, am 2. März, war wirklich ein historischer Augenblick für jeden Historiker, der quellenmäßig arbeitet: Die Bestände zum Pontifikat Pius’ XII., Papst von 1939 bis 1958, waren endlich der Forschung zugänglich geworden. Darauf hatte die Forschung jahrzehntelang gewartet. Auch mein Münsteraner Team und ich hatten diesem Augenblick entgegengefiebert. Endlich würden wir die entscheidenden Fragen an die neu zugänglichen Quellen stellen können. Hier nur eine Auswahl: Was wusste der Papst wann vom Holocaust? Hat er den Informationen über die millionenfache Ermordung der Juden geglaubt? Verfügte er über eigene kirchliche Informationen jenseits des Materials, das ihm jüdische Organisationen und die amerikanische Regierung vorlegte? Warum hat er nicht laut protestiert? Haben Pius XII., die Römische Kurie, die päpstliche Diplomatie und die Kirche vor Ort geholfen oder nicht? Und wie sah diese Hilfe konkret aus?

Allein 200.000 Schachteln mit jeweils bis zu tausend Blatt allein im Vatikanischen Archiv, noch einmal so viel Material in den anderen parallel zugänglich werdenden päpstlichen Archiven. Millionen von Seiten. Eine Herkulesaufgabe. Da es nur 30 Arbeitsplätze im Vatikanischen Archiv für die Forscher weltweit gibt, musste man sich ein halbes Jahr im Voraus anmelden. Es gab Slots für jeweils zwei bis drei Wochen. Wir Münsteraner erhielten sieben von 30 Plätzen in den ersten drei Wochen. Großartig, ein Vertrauensbeweis des Vatikanischen Apostolischen Archivs, mit dem wir seit zwölf Jahren ein digitales Kooperationsprojekt betreiben.

Wir waren euphorisch. Gut, Norditalien war Risikogebiet. Zwar führen alle Wege nach Rom, aber die Lombardei und Mailand waren weit weg. Wir befürchteten, unsere Unileitung würde die Dienstreise im letzten Moment noch absagen. Unser Dekan schaltete sich ein. Dann kam grünes Licht. Wir durften hin und am Morgen des 2. März waren wir die ersten, die sich in das große Besucherbuch des Geheimarchives eintrugen, die ersten Nummern gehörten uns.

Inzwischen arbeiten wir alle im Homeoffice. Zwei Wochen Quarantäne nach der Rückkehr aus dem Risikogebiet galten ab 7. März, lange vor den Kontaktverboten. Zwei Mitarbeiter zeigten Erkältungssymptome und mussten getestet werden. Drei Tage banges Warten. Negativ – Gott sei Dank. Meinen Fund aus der Nuntiatur Bukarest haben wir inzwischen eingeordnet. Er ist noch unbekannt und illustriert die Geschichte des Holocaust in einem Gebiet, das sonst in der Geschichte des Schreckens oft vergessen wird. Hier gab es kein Auschwitz und kein Treblinka. Transnistrien war 1941 von den Rumänen mit Unterstützung der deutschen Wehrmacht von den Russen erobert worden. Die Grenze bildeten die Flüsse Dnister und Bug. Hierher waren vor allem Juden aus Odessa, Bessarabien und der Bukowina von der rumänischen Polizei deportiert worden. Unterwegs kam es immer wieder zu Massakern von Seiten der einheimischen Bevölkerung, viele verhungerten auch. Der Deportationszug kam am Bug zum Stehen. Die Rumänen zogen sich zurück. Die „Endlösung“ überließen sie den Deutschen. Das ist genau der Moment des Schreckens, von dem mein Dokument berichtet.

Wir waren zu siebt fünf Tage in den Archiven. Jeder konnte jeden Tag fünf große Schachteln einsehen: 175 archivalische Einheiten insgesamt. Ihre Auswertung wird uns die nächsten Wochen gut beschäftigen und eine präzise Vorbereitung auf die nächste Archivphase nach Corona ermöglichen. Und wir werden zwischendurch gemeinsam Zeitungsartikel publizieren, Radiointerviews per Telefon geben, eine Fernsehdoku konzipieren. Ich bin froh, dass ich eine gute Handbibliothek mit ein paar tausend Bänden zuhause habe und dass es das Internet gibt und digitale Editionen. Und dass wir in Münster in den letzten zwölf Jahren selbst eine digitale Edition zu Eugenio Pacelli – so hieß Pius XII. mit bürgerlichem Namen – abgeschlossen haben, so dass „virtuelles“ Arbeiten für uns Alltag ist. Natürlich ist Kinderbetreuung bei geschlossenen Schulen ein Thema, aber bislang bekommen wir das auch in Viruszeiten gut organisiert mit pragmatischen Absprachen zwischen dem Chef und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Apropos Virus, ausgerechnet am Donnerstag, den 5. März, haben meine Mitarbeiter mich beim gemeinsamen Abendessen daran erinnert, dass ich bei fast jedem Vortrag über die vatikanischen Archive davon spreche würde, wie glücklich ich sei, wenn ich wieder einmal einen jungen Doktoranden nach drei Tagen in Rom bereits so sehr mit dem „Virus Archivio Vaticano“ infiziert hätte, dass er diesen sein Leben lang nicht mehr los werde. Alle bestätigten lachend: Das sei mir bei ihnen allen gelungen. Und sie seien froh über diese Virusinfektion.

Am folgenden Tag erwies sich das Coronavirus dann als stärker als das vatikanische. Das Lachen war uns vergangen. Aber Covid-19 wird am Ende besiegt werden. Und das Virus, das eine immer neue Faszination und Begeisterung für die Arbeit in den Vatikanischen Archiven auslöst, wird sich machtvoll zurückmelden – vielleicht stärker als jemals zuvor, nach Wochen oder gar Monaten des Entzugs oder der Inkubationszeit im Homeoffice. Denn die Arbeit hier ist produktiv und schön, aber verglichen mit der Arbeit an den Originalquellen in Rom allenfalls ein billiger Ersatz.

 



Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf ist seit 1999 Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. 2003 erhielt er den mit 1,55 Mio. Euro dotierten Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Zugleich ist Hubert Wolf Geschäftsführender Vorstand der wbg.

Tags: Corona, Community
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