Der Sieger des aktuellen Schreibwettbewerbs »Über die Zukunft. Wie wird die Welt von morgen?« steht fest: Der Beitrag »Das grüne Schloss«, eine rasante Kurzerzählung im Lichte der aktuellen Pandemie. Das Thema Zukunft ist zurzeit bei vielen Mitgliedern präsent: Noch nie wurden so viele Beiträge eingereicht wie dieses Mal. Hier der Siegerbeitrag.
Die Ruinen der alten Einkaufsmeile wurden vom Mondlicht beschienen. Moria und Suzanne haben sich in die Eingangshalle der ehemaligen Apotheke verdrückt. Sie tranken Schnaps und hofften nicht von der Bush-Polizei gefunden zu werden.
Durch die Pandemie brach die Wirtschaft ein. Als das Essen knapp wurde erkannten Polizisten und bewaffnete Kriminelle, dass die größte Gefahr für sie von den jeweiligen anderen ausging, und beschlossen, von nun an zusammenzuarbeiten. Der Name Bush-Polizei leitet sich von ihrem Vorgehen ab, unangemessen brutal zu sein, um Gefahren schon prophylaktisch abzuwenden.
Und als wäre das nicht schlimm genug, befanden sich Moria und Suzanne auch noch in Stendal. Kein Tag verging, an dem Moria sich nicht dafür verfluchte. Er hatte vor der verdammte Pandemie alle Zeit der Welt, er hätte Stendal den Rücken kehren können, sollen. Doch getan hat er es nie.
Eisig wehte der Wind durch die notdürftig mit Brettern verrammelte, zersplitterte Glastür. Die ehemalige Apotheke war Teil eines Gebäudekomplexes, der einst ein beschauliches Stadtteilzentrum gebildet hatte. Es gab mal einen teilweise überdachten Vorplatz, und sogar eine Flanierpassage. Doch der Zerfall war schon Jahrzehnte vor der Pandemie bittere Realität in Stendal. Alles was ab 2020 geschah beschleunigte nur das unausweichliche. Nun waren die alten träume nicht mehr als ein Haufen Bauschutt, mit einigen letzten Löchern die als Unterschlupf geeignet waren.
Morias Magen schmerzte. Seine letzte Mahlzeit war zwei oder drei Tage her. Sie bestand aus einem angegammelten Kürbis. Der Schnaps vergrößerte und verringerte den Schmerz gleichermaßen. Er ließ ihn Sorgen vergessen, bereitete ihm aber auch neue. Suzanne sagte, sie hätte die Flasche in einer der leeren Wohnung gefunden. Schwachsinn, die Wohnungen und Geschäfte sind längst ausgeräumt. Suzanne ist unbewaffnet und wehrlos. Und sie hat nichts zum Handeln außer ihren Körper. Sie wird ihn noch infizieren.
„Ich habe gehört, dass im grünen Schloss noch genug Impfstoff vorhanden ist. Wir müssen nur hin, uns registrieren, und schon dürfen wir weiter. Im Süden gibt es wieder einen funktionierenden Staat.“
Moria kannte alle Gerüchte vom grünen Schloss. In der Nähe eines Hochtals soll es so etwas wie ein Bollwerk im Schutz der Alpen sein. Es wird gesagt, dass die Zivilisation dort ein letztes Refugium gefunden hat.
Moria und Suzanne sprachen oft davon, sich zum grünen Schloss aufzumachen. Allerdings war das Risiko zusammen zu gehen zu hoch. Das Gebiet vor Stendal ist nur noch kilometerweites Brachland und damit der perfekte Spielplatz für die Bush-Polizei. Seit die Suzannes Knie zertrümmert hatte konnte sie nur noch humpeln. Sie wäre ein Klotz am Bein.
Suzanne lachte: „Na wenigsten müssen wir keine Angst mehr vor dem Klimawandel haben.“
Moria war wütend. Ihm war nicht zum Scherzen zumute. Sie war nichts weiter als eine Verschwendung wertvoller Kalorien. Soll er ihren dummen Schädel einschlagen?
Moria erschrak. Er ertappte sich in letzter Zeit häufig bei solchen Gedanken. Hunger, Angst, Ohnmacht, er konnte nicht mehr.
Er legte sich hin. Morgen würde er etwas zu essen besorgen. Einen Hasen. Oder eine Katze, eine Ratte, eine Maus. Irgendetwas.
Wie immer war die Nacht ungemütlich und der Schlaf schlecht. Moria fragte sich lange, ob alles was er erlebte nur eine Phantasie sei, und er in Wahrheit langsam erstickte, während sich seine fiebrige Lunge mit Wasser füllte. Immerhin war dies doch die Art, wie die Infizierten sterben.
Nichts ergab mehr Sinn.
Im Nebel des nächsten Morgens ging Moria auf die Jagd. Seine Fertigkeiten auf diesem Gebiet hatte er in den letzten Monaten stetig verbessern können. Dennoch war Erfolg nie garantiert. Doch heute war ein guter Tag, dass konnte er fühlen.
In der Nähe der alten Hauptstraße sah er drei Bush-Polizisten. Schnell verzog er sich in das kleine Tannenwäldchen auf dem Vorhof der alten Turnhalle. Die drei gingen die Straße entlang. Moria atmete auf. Sie steuerten nicht direkt auf ihn zu.
Zu spät bemerkte er, dass sie ihn absichtlich in Sicherheit gewiegt hatten, um ihn nicht zu früh aufzuscheuchen.
Moria machte sich nicht die Mühe zu rennen. Er hatte keine Kraft mehr.
Jean-Pierre, ein alter Sandkastenfreund, und zwei Bush-Polizisten, die er nur vom Sehen kannte, kamen auf ihn zu.
„Ausweis und Papiere!“
Jean-Pierre wusste genau, dass Moria keinen Ausweis mehr hatte. Ihr letztes Treffen endete damit, dass Jean-Pierre ihn mit einem Polizeistock K.O. schlug. Als Moria später aufgewacht war, hatte er eine Kopfverletzung gehabt, aber keinen Geldbeutel mehr. Alle anderen Papiere wurden in einem der vielen Feuer, die aufflammten seit die Gewalt eskalierte, vernichtet.
„Ich habe keine.“ flehte Moria zitternd.
„AUSWEIS UND PAPIERE“ wurde laut geschrien.
„PAPERS! SHOW US YOUR PAPERS!!!“
„Ich habe keine! Bitte!“
„LIE DOWN! HANDS ON YOUR BACK!!!“
Moria wurde von den dreien auf den Boden geschubst, und eine Kaskade von Schlägen und Tritten prasselte auf ihn ein.
Kauernd versuchte Moria seine Organe und sein Gesicht zu schützen.
Die Drei machte zwischendurch kurz Pause um mit einem Spaziergänger zu plaudern.
Nachdem dieser weg war kamen nur noch ein paar lustlose Tritte, und die Polizisten verabschiedeten sich mit den Worten: „Das ist Stendal, du Penner!“ und müdem Lachen.
Ein paar Tage später lag Moria in einem feuchtem Kellerraum einer der typischen Stendaler Ruinen.
Als das Fieber anfing hat er sich schnell hierher verzogen.
Er hatte Glück, bisher hatte ihn noch niemand gefunden.
Mit dem Verlauf der Krankheit hatte er weniger Glück.
Er war bewusstlos. Seine Lunge füllte sich mit Wasser. Während seiner letzten, keuchenden Atemzüge, phantasierte er davon, über die Zinnen des grünen Schlosses zu flanieren.