WISSEN!-Sachbuchpreis 2021: Die Dankesrede von Preisträger Mischa Meier

Mischa Meiers Buch Geschichte der Völkerwanderung (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung, C.H. Beck, 2019) wurde 2021 mit dem WISSEN!-Sachbuchpreis der wbg für Geisteswissenschaften ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand am Samstag, den 23. Januar, live bei Deutschlandfunk Kultur in der von Christian Rabhansl moderierten Sendung „Lesart“ statt. Der Preis ist mit 44.000 € der höchstdotierte deutschsprachige Sachbuchpreis. Mischa Meier akzeptierte den Preis mit folgender Dankesrede:

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der wbg,

der höchstdotierte deutsche Sachbuchpreis ist nun zum zweiten Mal verliehen worden, und ich möchte an dieser Stelle zunächst den Mitgliedern der wbg und der Auswahljury ganz herzlich für das Vertrauen danken, das Sie in mein Buch „Geschichte der Völkerwanderung“ gesetzt haben. Sehr gerne hätte ich Sie alle im Rahmen einer Präsenzveranstaltung persönlich kennengelernt und mich mit Ihnen ausgetauscht, und mein größter Wunsch ist aktuell, dass wir alle möglichst bald wieder in die Lage gelangen, solche Gelegenheiten des Gesprächs und der Diskussion wahrnehmen zu können.

Als ich am 23. Januar die Nachricht erhielt, dass ich für mein Buch den WISSEN!-Sachbuchpreis der wbg erhalten solle, war ich in höchstem Maße überrascht – und ich fühlte mich (und fühle mich seitdem) außerordentlich geehrt. Die wbg vergibt diesen Preis für „eine deutschsprachige Originalveröffentlichung, die einen herausragenden Beitrag zu den Geistes- oder Sozialwissenschaften leistet, anschaulich für ein breites Publikum geschrieben ist und gesellschaftlich relevante Fragen behandelt“. Dass mein Buch diesen hohen Maßstäben gerecht geworden ist, freut mich sehr. Ich möchte im Folgenden kurz einige Gedanken zum letztgenannten Kriterium, der Behandlung gesellschaftlich relevanter Fragen, äußern, da es sich dabei m.E. um einen Aspekt handelt, der für geisteswissenschaftliches Arbeiten und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit von außerordentlicher Relevanz ist.

In den letzten Wochen bin ich wiederholt darauf angesprochen worden, worin ich die Aktualität meines Themas, der ‚Völkerwanderung‘, sähe. In der Regel habe ich auf diese Frage eher zurückhaltend reagiert, mitunter bin ich ihr sogar ein wenig ausgewichen. Heißt das, dass die ‚Völkerwanderung‘ kein aktuelles Thema darstellt oder dass ich sie zumindest nicht für ein solches halten würde? Sind möglicherweise althistorische Themen und Inhalte grundsätzlich nicht aktuell? – Mitnichten. Aber die Frage tangiert einen diffizilen Bereich und ist weniger leicht zu beantworten, als es den Anschein hat.

Der Terminus ‚Völkerwanderung‘ führt eine schwere begriffsgeschichtliche Last mit sich im Gepäck. Er gewann im 19. Jahrhundert an Kontur und Popularität im deutschen Sprachraum, in einer Zeit also, als die Diskussionen um die Nation und den weithin ersehnten Nationalstaat an Bedeutung gewannen und ein deutsches Volk mit einer spezifischen Geschichte, eigenen Institutionen, einer besonderen Kultur und Wesensart – kurz: einem individuellen „Volksgeist“ – imaginiert und propagiert wurde. Der ‚Völkerwanderung‘ kam in diesem Identitätsfindungsprozess eine besondere Bedeutung zu, denn sie fungierte gleichsam als ‚Urknall‘ der deutschen Geschichte: Einzelne deutsche Stämme hätten ihre Urheimat im Norden verlassen und nach langer Wanderung die Grenzen des Römischen Reiches erreicht; sie hätten diese überwunden und in harten Auseinandersetzungen schließlich das Imperium niedergerungen, um auf dessen Territorium nunmehr eigene Reiche zu errichten, die wiederum als Ursprung der deutschen Staaten anzusehen seien, deren Vereinigung zu einem übergreifenden Nationalstaat somit eine historische Notwendigkeit darstelle.

Ich muss nicht viele Worte darüber verlieren, dass diese Sichtweise wissenschaftlich inzwischen selbstverständlich überholt ist. Sie basiert auf einem Volksbegriff, der sich als obsolet erwiesen hat, sie rekurriert auf Vorstellungen von Wanderungen, die schlicht widerlegt werden konnten, und sie zeichnet ein allzu schematisches Bild der Vorgänge, die sich in der Übergangsphase zwischen Spätantike und Frühmittelalter zutrugen.

Dennoch hat sich der Begriff ‚Völkerwanderung‘ als erstaunlich zählebig erwiesen und ließ sich nicht aus der Welt schaffen. Auch mein Buch führt ihn noch im Titel. Woran liegt das? Mein Eindruck ist, dass ‚Völkerwanderung‘ Assoziationen transportiert, die wir liebgewonnen haben und die damit nicht zuletzt auch eine emotionale Komponente bergen: Für Angehörige der älteren Generation wurde das Bild dieser Epoche häufig von Historienromanen wie Felix Dahns ‚Kampf um Rom‘ geprägt, ferner von Schulbüchern, die – selbst wenn sie jüngeren Datums sind – häufig noch auf einem Forschungsstand basieren, der überwunden ist und noch zahlreiche Bestandteile älterer Sichtweisen und der damit verbundenen ideologischen Versatzstücke aufweist. Das wird besonders deutlich an den weiterhin gern verwendeten Karten, die mit einer Unzahl von Pfeilen die angeblichen Migrationsbewegungen vermeintlich kohärenter Einheiten – der suggerierten ‚Völker‘ – nachzeichnen sollen und damit letztlich ein irreführendes Bild der Epoche vermitteln. Große Persönlichkeiten als Anführer der wandernden Einheiten und als Gestalter einer heroischen Vorzeit treten in diesem Vorstellungshorizont auf und prägen eine vergangene Welt, die uns seit Jahrzehnten auch in Historienfilmen und der jüngeren Populärkultur, bis hin zu aktuellen Serien und Computerspielen, entgegentritt.

Ich gebe zu, dass ich diese Produkte teilweise schätze: Ich habe als Jugendlicher Dahns ‚Kampf um Rom‘ gerne gelesen und ich mag Historienfilme, selbst dann noch, wenn Anthony Quinn und Sophia Loren im Jahr 1954 vergeblich darum bemüht sind, einem gruseligen Attila-Drehbuch Leben einzuhauchen. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass wir letztlich über zwei Völkerwanderungen sprechen: Die imaginierte, die ich gerade beschrieben habe und die unsere Vorstellung weithin prägt; und jene andere, weitaus sperrigere und kompliziertere, die in den letzten Jahrzehnten in unermüdlicher Fleißarbeit zahlreicher Wissenschaftler rund um die Welt erarbeitet wurde und nicht mehr viel mit der erstgenannten Version zu tun hat. Ich habe es als meine Aufgabe angesehen, dieses neue Bild aufzuarbeiten und an ein größeres Publikum zu vermitteln. Ich halte mein Buch also zunächst einmal deshalb für aktuell, weil es einen jüngeren Forschungsstand umreißt und auf dieser Basis ein neues Bild einer scheinbar vertrauten Epoche zu entwerfen versucht.

Aber ist auch der Gegenstand selbst aktuell? Seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 stößt man vermehrt auf Vergleiche und Analogien zwischen aktuellem Geschehen und ‚der‘ Völkerwanderung. Von einer „neuen Völkerwanderung“ ist die Rede, und auch die Deutung der gegenwärtigen Situation aus der ‚Völkerwanderung‘ heraus wird gerne bemüht. Damit sollte man sehr vorsichtig sein: ‚Völkerwanderung‘ ist, wie angedeutet, ein assoziationsbelasteter Begriff, und eine der Hauptassoziationen betrifft die (vermeintliche und in der Forschung inzwischen kontrovers diskutierte) Verbindung zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und der ‚Völkerwanderung‘. Schnell ist man, wenn entsprechende Vergleiche gezogen werden, beim Untergang Deutschlands oder Europas. Das ist, um es deutlich zu sagen, Unsinn. Wir kommen hier auf die grundsätzliche Problematik des historischen Vergleichs. Es gibt kaum ein komplexeres Unterfangen im Bereich der Geschichtswissenschaft, als historische Vergleiche vorzunehmen – zumal über große zeitliche Distanzen hinweg. Die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich historisches Geschehen vollzieht, sind außerordentlich komplex, und sie sind es nicht nur mit Blick auf die Zeitgeschichte, sondern sie sind es immer und überall. Um diesem Sachverhalt gerecht zu werden, erfordert jeder historische Vergleich einen höchst aufwendigen und diffizilen Versuchsaufbau – in Form einer angemessenen und ausgewogenen methodisch-theoretischen Reflexion. Gleichzeitig darf man nicht über die Ergebnisse, die sich dabei gewinnen lassen, enttäuscht sein: In der Regel gestalten sich diese eher banal und fördern bestenfalls gewisse Muster zutage. Das liegt daran, dass der interepochale Vergleich ein Abstraktionsniveau erfordert, das Resultate im Einzelnen von vornherein ausschließt. Die Aktualität der ‚Völkerwanderung‘ kann also nicht darin liegen, dass wir sie über Vergleiche oder gar über unreflektierte Analogien auf die Gegenwart beziehen. Meiner Überzeugung nach liegt sie auf einer anderen Ebene: Indem wir uns ausführlich mit dem Geschehniszusammenhang ‚Völkerwanderung‘ beschäftigen, indem wir den reduktionistischen Blick auf wandernde ‚Völker‘ und einen schematischen Zusammenstoß von Römern und ‚Germanen‘ aufgeben und indem wir die ‚Völkerwanderung‘ einbetten in ein facettenreiches Gesamtgewebe aus unterschiedlichsten Zusammenhängen – kurzum: indem wir versuchen, der hohen Komplexität des Geschehens und seiner Kontexte näherzutreten, gewinnen wir nicht nur ein neues, solideres und besser begründetes Bild von den zugrundeliegenden Vorgängen selbst. Wir gewinnen vielmehr auch einen Eindruck davon, wie komplex historisches Geschehen sich grundsätzlich gestaltet, wie vielfältig die Zusammenhänge, Einbettungen, Verflechtungen, Kontingenzen usw. sind – wie problematisch es ist, einzelne Zusammenhänge (die sich ja letztlich lediglich aus retrospektiven Perspektivierungen ergeben) wie die ‚Völkerwanderung‘ aus ihren Kontexten herauszureißen, und wie schwierig historisches Geschehen überhaupt zu beurteilen ist. Es geht also letztlich um die angemessene Darstellung (und die Frage der narrativen Darstellbarkeit!) von Komplexität (was den Umfang meines Buches keineswegs entschuldigen soll…).

Für die Gegenwart scheint mir dies kaum umstritten zu sein: Gegenwartsorientierte Disziplinen wie die Soziologie oder Zeitgeschichte blicken auf unser Jetzt bzw. die jüngste Vergangenheit, und sie tun dies nicht zuletzt dadurch, dass sie sich an eben jener Komplexität abarbeiten, die der Kommunikation und Praxis sozialer Gruppen und Gesellschaften nun einmal immer eigen ist; dass wir sie im Alltag permanent beobachten können und erfahren, macht sie für uns plausibel. Doch sollte man diese Komplexität auch historischen Gesellschaften zugestehen, selbst jenen, die in der sogenannten Vormoderne angesiedelt werden.

Gefragt nach der Aktualität der ‚Völkerwanderung‘, würde ich also antworten wollen: Sie liegt in ihrer Komplexität – einer Komplexität, die aufzuzeigen vermag, dass gerade jene vorschnellen Vergleiche und Analogien, die zuletzt wiederholt gezogen wurden – also eine spezifische, momentan häufig praktizierte Form der Aktualisierung der ‚Völkerwanderung‘ –, höchst problematisch sind. Ein kritischer, informierter Blick auf die ‚Völkerwanderung‘ kann somit dazu beitragen, aktuelle Diskussionen zu entzerren, sie von falschen Assoziationen zu entlasten und damit Fehldeutungen vorzubeugen, die rasch auch politisch instrumentalisiert werden können.

Die ‚Völkerwanderung‘ bietet keine Folie, vor deren Hintergrund sich aktuelle Zustände angemessen beschreiben oder gar gegenwärtige Probleme bewältigen ließen. Das berühmte ‚Lernen aus der Geschichte‘ funktioniert ohnehin nur in den wenigsten Fällen, denn es bleibt dabei: Historische Rahmenbedingungen sind immer unterschiedlich, aber stets höchst komplex. Geschichte liefert keine Baupläne für die exakte Gestaltung von Zukunft. Aber wir sind durchaus in der Lage, die Vergangenheit im Lichte unserer aktuellen Erfahrungen immer wieder neu zu formen und zu deuten – mit anderen Worten: Wir arbeiten an unserer Geschichte, die weniger ein monolithischer Block ist als ein stets in Bewegung befindlicher Prozess. Und wir tun dies, indem wir aus der Gegenwart heraus Fragen, Perspektiven, Sichtweisen usw. entwickeln. Das aber bedeutet: Wir aktualisieren im Prozess der Geschichtsforschung und -schreibung permanent unsere eigene Geschichte, und mittels der historischen Gegenstände reflektieren wir über uns selbst und unsere eigene Zeit, und insofern arbeiten wir auch an unserer Gegenwart. Eine aktuelle Darstellung der ‚Völkerwanderung‘ bedeutet damit implizit auch eine aktuelle Darstellung unserer eigenen Welt, auch wenn diese explizit im Text nicht erwähnt wird; sie ist aber stets gegenwärtig, weil sie die Art des Zugriffs anleitet. Die Komplexität historischen Geschehens verweist auf die Komplexität unser Gegenwart zurück – und umgekehrt. Ich glaube, dass diese wechselseitige Rückbesinnung gerade unter den Bedingungen der aktuellen COVID-19-Pandemie von höchster Dringlichkeit ist. Denn Historiker zeigen immer wieder von neuem auf, wie vielschichtig soziale Zusammenhänge sich gestalten und wie differenziert man sie dementsprechend zu beurteilen und mit ihnen umzugehen hat. Damit stellen sie eine Stimme im Chor all derer dar, die vor voreiligen Reduktionen und Vereinfachungen warnen, und wirken jenen entgegen, die Debatten und Diskussionen unter Verweis auf trügerische Eindeutigkeiten unterdrücken wollen. Geschichtswissenschaft – ja Wissenschaft überhaupt – ist nie eindeutig, sie kann es nicht sein: Sie ist immer ein dialektischer Prozess und benötigt stets die kontroverse Debatte. Historiker und Geisteswissenschaftler überhaupt können auf diesen fundamental bedeutenden Sachverhalt aufmerksam machen – auch wenn gerade das ständige Weiterfragen und (scheinbare) Vermeiden eindeutiger Urteile unbequem erscheinen mag. Es ist der wbg hoch anzurechnen, dass sie diese Art des Denkens mit dem WISSEN!-Sachbuchpreis unterstützt.

 

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