Es war Zufall, dass sich in Hofheim/Ts., dem ehemaligen Wohnhaus des weltweit führenden Exil- und Literaturwissenschaftler Hans-Albert Walter (1935-2016) ein gelber DHL-Karton fand, er war voller zum Druck vorbereiteter Kopien für eine Kleinprosa-Anthologie aus dem Exil 1933-1950. Zum Teil schwer lesbare Kopien aus entlegenen Quellen wie z.B. der Pariser Tageszeitung und ihrem Nachfolger, dem Pariser Tageblatt. Dazu ein Inhaltsverzeichnis und ein ausführliches Vorwort. Allein die Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses zeigte: Es handelt sich hier um eine einzigartige Zusammenstellung. Nämlich nicht um das übliche Best-of, sondern um einen thematisch gegliederten Querschnitt durch das gesamte Exil, in dem „Edelfedern“ gleichberechtigt neben z.B. geifernden Stalinisten stehen: der Komplett„sound“ des gesamten antifaschistischen Exils, wobei keine Facette unberücksichtigt blieb. Erschienen ist diese auf drei Bände ausgelegte Kompilation jedoch nie. Nun erblickt sie endlich das Licht der Welt – und ist so einzigartig und unvergleichbar wie bei ihrer Zusammenstellung Ende der 1990-er Jahre.
Es ist Zufall, daß diese Anthologie mit Exil-Kurzprosa gerade im Jahr 2022 herauskommt, dem Jahr, in dem eine der ehemaligen Siegermächte über das Hitlerregime mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine einen Flüchtlingsstrom ausgelöst hat, wie man ihn nach dem Ende des „Dritten Reiches“ innerhalb Europas nicht mehr erlebt und auch nicht für möglich gehalten hatte. Wenn es eines Beweises für die nicht nachlassende Aktualität des Themas Exil bedürfte: Hier ist er.
Hans-Albert Walter, bekannt vor allem durch die bis zu seinem Lebensende erschienenen fünf der insgesamt sieben konzipierten Bände seines voluminösen Hauptwerkes Deutsche Exilliteratur, das in der internationalen Exilgeschichtsschreibung einzig dasteht, leitete von 1976 bis 1981 die heutige Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur an der Hamburger Universität, danach arbeitete er als freiberuflicher Privatgelehrter an seinem Lebensthema. 1988 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Köln, 1993 den Hessischen Kulturpreis für Wissenschaft und 2007 das Bundesverdienstkreuz I. Klasse.
Acht Monate hat Walter allein in die Quellenrecherche für seine Edition investiert: Herangezogen wurden Erzählungsbände, aber vor allem die literarischen Zeitungen und Zeitschriften des Exils, die für viele emigrierte Autoren so etwas wie der rettende Strohhalm waren. Wichtige Quellen für Walter waren natürlich Klaus Manns Sammlung (Amsterdam) und Wieland Herzfeldes Neue Deutsche Blätter (Prag), aber auch zahlreiche schwer zugängliche Publikationen, die bis dato diesbezüglich (und das gilt bis heute!) von niemandem wirklich durchgearbeitet und ausgewertet worden waren, obwohl sie jede Menge Texte, die nie wieder veröffentlicht wurden, enthalten. „Sinn und Zweck einer solchen Anthologie kann es nur sein, die Fülle von Widersprüchen zu dokumentieren, aus der sich die Literatur des deutschen Exils sui generis konstituiert. Sie wird nur in einem in sich geschlossenen Umgriff sicht- und für den Leser nachvollziehbar“, so Hans-Albert Walter über seine Zusammenstellung.
Vielgestaltig sind die Sujets und Schreibweisen, Anekdoten auf wenigen Zeilen von Roda Roda gehören ebenso dazu wie das Genre der Kurzprosa fast schon sprengende Texte wie die von Thomas Mann oder Stefan Zweig. Der nach seiner Abkehr vom Kommunismus als Verräter gebrandmarkte Gustav Regler steht neben dem linientreue Karl Schmückle. Bewusst wurden bei diesem „Sound“ des Exils gelegentliche Misstöne nicht ausgespart. Somit bietet die vorliegende Anthologie eine nie dagewesene Expedition ins antifaschistische literarische Exil, und es überrascht wenig, wie hochaktuell viele der neu zu entdeckenden Texte klingen.
Über die drei Bände »Exil!«
Eine einzigartige Anthologie deutschsprachiger Exilliteratur und Kurzprosa
Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Krieg: In der Zeit zwischen 1933 und 1950 lebten viele Literaturschaffende im Exil. Die Flucht aus Deutschland verstreute Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ganz Europa, Nord- und Südamerika und Asien. Das Kompendium sammelt erstmals ihre Stimmen aus Zeitschriften für deutschsprachige Exilliteratur wie »Neue Weltbühne«,»Aufbau« oder »Pariser Tageblatt«. In einer unübertroffenen Bandbreite versammelt diese Anthologie kleine Formen der Exilliteratur in einer enormen Vielfalt von Stilen, Schreibweisen und Themen.
Über die Herausgeber
Ulrich Faure lebt als Herausgeber und Übersetzer in Düsseldorf. Er übertrug u. a. Simon Carmiggelt, Thomas Heerma van Voss, Rob van Essen und Pieter Waterdrinker aus dem Niederländischen ins Deutsche.
Peter Graf ist Geschäftsführer des Verlags »Das Kulturelle Gedächtnis« und Inhaber der Verlagsagentur »Walde + Graf«. Publizistisch begibt er sich vor allem auf die Suche nach vergessenen Texten, um sie heutigen Leser:innen neu zugänglich zu machen.