Zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger

Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger gilt heute als eine der bedeutendsten Repräsentant:innen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Mit ihren Werken distanziert sie sich scharf von der nach 1945 aufkommenden Kahlschlagliteratur und setzte sich dafür ein, dass die furchtbaren Erlebnisse der durch den Nationalsozialismus Verfolgten nicht vergessen wird. 


Aichinger selbst war Jahrgang 1921 und wurde am 01.11. als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien geboren. Seit dem »Anschluss Österreichs« 1938 lebte die Familie in Angst vor dem nationalsozialistischen Regime. Zunächst hatte die Familie Glück: Aichingers Zwillingsschwester Helga Michie konnte frühzeitig via Kinderlandsverschickung nach Großbritannien geschickt werden. Die Mutter, die Eltern hatten sich zuvor getrennt, war wegen ihrer Tätigkeit als »Betreuerin einer Halbarierin« vor der Verfolgung der Gestapo geschützt, solange Aichinger noch minderjährig war. Nichtsdestoweniger wurden sie zur staatlichen Dienstpflicht beordert. Als Frau Aichinger volljährig war, versteckte sie ihre Mutter in ihrem damals zugewiesenen Zimmer direkt gegenüber des Gestapo-Hauptquartiers, ihre Tanten und ihre geliebte Großmutter starben jedoch im Vernichtungslager Maly Trostinez in der Nähe von Minsk. Mit gerademal vierundzwanzig Jahren musste Aichinger also nicht nur den Krieg, die Trennung ihrer Eltern, die Trennung von ihrer Zwillingsschwester und die vermutlich unermessliche Angst um ihre Mutter ertragen haben, sondern ebenso den schmerzlichen Verlust ihrer Tanten und Großmutter. 


Nach dem Krieg konnte Aichinger schließlich ihr Medizinstudium antreten, gab dieses allerdings nach wenigen Semestern wieder auf, um ihr Leben der Literatur zu widmen. Ihr erster Roman »Die größere Hoffnung« erschien bereits 1948. Ihre Texte machten den Kritiker Hans Weigel auf sich aufmerksam, der sie bei den Publikationen ihrer Texte beim Bermann-Fischer-Verlag und mehrerer Zeitungen in Wien förderte. Schließlich wurde Aichinger Mitglied der von Hans Werner Richter gegründeten Förderung für junge Autoren, der Gruppe 47 und gewann ebenfalls auch den »Preis der Gruppe 47«. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann und Kindesvater Günther Eich kennen, für den sie nach Deutschland zog. 


Aichingers Karriere stand nichts mehr im Weg: Sie wurde Mitglied in zahlreichen namenhaften Komitees und Vereinen, wie beispielsweise der Akademie der Künste in Berlin West, der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland, Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und gewann viele Auszeichnungen, wie den »Großen Österreichischen Staatspreis«.
Ihre glänzende Karriere, die in einer längeren Lesereise in den USA gipfelte, wurde durch drei Schicksalsschläge zwischen 1977 und 1998 unterbrochen. Nachdem Aichinger ihren Mann, ihre Mutter und ihren Sohn verlor, legte sie eine Pause in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ein. Zu Beginn der 2000er verfasste die Autorin wieder wöchentliche Artikel für die Wiener Tageszeitung »Der Standard«. Bis zu ihrem Tod lebte Aichinger in Wien, besuchte regelmäßig ihr Stammcafé und ging ins Kino, bis sie 2016 im Alter von 95 Jahren verstarb. 


Anlässlich ihres 100. Geburtstags möchten wir ihren ersten und einzigen Roman »Die größere Hoffnung« vorstellen, der 1948 im Bermann-Fischer-Verlag in Amsterdam publiziert wurde. Ilse Aichinger klärt über die Verfolgung von jüdischen Kindern im Nationalsozialismus auf. Sie konzeptualisiert die Erzählung nicht gradlinig, sondern durch Träume, Dialoge und auktoriale Erzählungen. Sehr lebhaft wird die Angst der Kinder deutlich, die durch das Regime zum Tragen des Judensterns gezwungen, verfolgt und deportiert wurden. Dies gelingt Aichinger vorrangig durch die Geschichte der Protagonistin Ellen, die als Kind eines jüdischen Elternteils, wie Aichinger selbst, den Verlust der Mutter, Freunden und der Großmutter erleben muss und schließlich zum Suizid greift, um der eigenen Deportation zu entgehen. Die Ironie des Titels »Die größere Hoffnung« ist unumgänglich, denn die Botschaft von Frau Aichinger ist schlichtweg, dass keine größeren Hoffnungen existieren. Die Abhandlung impliziert Aichingers ersten publizierten Text »Das vierte Tor« von 1945, in dem vor allen anderen Konzentrationslager in der österreichischen Literatur behandelt. 


Mit diesem Roman wagte  Aichinger den mutigen Schritt, sich kurz nach dem 2. Weltkrieg dafür stark zu machen, dass die Geschichte nicht einfach verdrängt wird. Ex eventu können wir nichts anderes als tiefe Bewunderung für die Stärke, den Mut und die Originalität aussprechen, mit der Ilse Aichinger durch ihr Leben ging und uns dank ihrer Werke daran teilhaben ließ. 

 


»Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.«
Ilse Aichinger

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