Der Osteuropahistoriker und Journalist Ignaz Lozo zeichnet in seiner Biografie »Gorbatschow. Der Weltveränderer« ein umfassendes Bild des Politikers, dessen Name untrennbar mit Glasnost und Perestroika verbunden ist. Im Interview vom Januar 2021 mit der wbg erklärt Lozo den Menschen Michail Gorbatschow und seine Politik.
wbg: Lieber Herr Lozo, Sie haben sich über viele Jahre hinweg mit Michail Gorbatschow beschäftigt, haben ihn mehrfach auch persönlich getroffen und interviewt. Wenn sie ihn als Menschen mit einer Episode, einem Ereignis beschreiben sollten – welche Geschichte würden Ihnen sofort einfallen?
Ignaz Lozo: 1994 - im Zuge der weltweiten Veröffentlichung seiner Memoiren – besuchte Michail Gorbatschow das ZDF. Der damalige und von mir hochgeschätzte Intendant Prof. Dieter Stolte empfing ihn und seine Frau Raissa. Ich durfte bei diesem Treffen im Büro des Intendanten dabei sein – als Dolmetscher, aber auch als Interviewer mit meinem Kamerateam. Herr Stolte sprach über das ZDF. Gorbatschow blätterte in einer Informationsbroschüre über den Sender, allerdings nicht sehr interessiert.
Irgendwann sagte er höflich, aber vage: „Das ist höchst interessant“, wandte sich dann aber mir zu und leitete damit über zu meinem Interview, bei dem es um die russische Innenpolitik gehen sollte. Die Szene offenbarte, wie sehr Gorbatschow als Politiker „brannte“, da er jetzt aufblühte und mit Leidenschaft sprach.
Viele Kollegen fragten mich hinterher, wie es gewesen sei. Ich berichtete unter anderem von Gorbatschows Ausspruch „Das ist höchst interessant“, was dann zu einem witzigen und gleichzeitig recht klaren Synonym in Konferenzen oder im Redaktionsalltag wurde, bitte das Thema zu wechseln – auf Russisch übrigens „Otschen interesno.“ Dass Gorbatschow – sobald es um Politik geht – alles um sich scheinbar vergisst, zeigte auch eine Interviewsituation einige Jahre später in Moskau. Als Ort legte er den Regierungsflughafen von Moskau fest, wo er mir in einem separaten Warteraum etwa 30 Minuten vor dem Check-in gewährte. Das Gespräch wurde wieder so lebhaft, dass er gar nicht mehr aufhören wollte. Das Boarding war schon im Gange, seine Frau Raissa drängelte verständlicher Weise. Gorbatschow erwiderte: „Ja, ja, ich komme ja schon“, brach das Interview aber nicht ab. Erst nach ihrer zweiten Intervention einige Minuten später und auf den letzten Drücker, stand er auf und verabschiedete sich.
wbg: Als Politiker war und ist Michail Gorbatschow umstritten – im Westen als Öffner und Reformer gelobt, in Russland als „Vater“ der Wirtschaftskrise und „Totengräber“ der Sowjetunion kritisiert. Wie schätzen Sie Gorbatschows Rolle in der Geschichte der Sowjetunion und Russlands ein?
Ignaz Lozo: Gorbatschow hat mit seiner Politik der Demokratisierung das totalitäre Sowjetsystem überwunden. Einige sagen, er hätte dies nicht beabsichtigt. Dem kann ich nicht zustimmen. Er wollte wie kein anderer den Bürgern Mitspracherechte geben; er schuf ganz systematisch die Scheinparlamente ab in der Sowjetunion. Er sorgte ganz bewusst dafür, dass die grausame Stalin-Zeit aufgearbeitet, die Religionsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit und vieles mehr eingeführt wurden. Er mag in Russland umstritten sein. Das ändert nichts daran, dass er einer der größten Reformer des 20. Jahrhunderts ist - nicht nur in seinem Land, sondern weltweit.
wbg: In Bezug auf Deutschland, aber auch auf den Zerfall der UdSSR war die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit 1990 ein wichtiger Meilenstein, für den er in der Sowjetunion stellenweise scharf kritisiert wurde. Was überzeugte Gorbatschow davon, der deutschen Wiedervereinigung zuzustimmen? Was war seine Erwartung an ein vereintes Deutschland?
Ignaz Lozo: Gorbatschow musste schon recht bald nach dem Mauerfall feststellen, dass die DDR-Bürger mehrheitlich so schnell wie möglich die Wiedervereinigung wollten und auch von einem reformierten Sozialismus in der DDR nichts mehr wissen wollten, wie ihn Egon Krenz als neuer SED-Chef und Nachfolger von Erich Honecker anstrebte. Gorbatschow sah, dass die Bürger nicht mehr hinter ihrer Führung standen. Das gab den Ausschlag, die DDR fallen zu lassen, die er aber wohl gar nicht mehr hätte halten können – weder politisch noch wirtschaftlich.
Er hoffte, dass seine Zugeständnisse ihm eine langfristige wirtschaftliche und politische Kooperation mit dem Westen einbringen würden, die ihm helfen könnte, die eigenen innenpolitischen Probleme zu lösen. In dieser Frage versuchte die Regierung von Helmut Kohl so gut es ging zu helfen. Das tat sie auch nach dem Untergang der Sowjetunion ein Jahr nach der deutschen Einheit, als sie dem neuen Russland unter Präsident Boris Jelzin ein guter Partner sein wollte. Doch mit einer Lösung der innerrussischen Probleme war Deutschland, war der Westen insgesamt natürlich überfordert.
wbg: Mit dem Abkommen von Belowesch schufen der russische Präsident Boris Jelzin und die Republikführer der Ukraine und von Belarus Ende 1991 die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) - ohne das Wissen Gorbatschows, der eine Zersplitterung der Sowjetunion ja eigentlich nicht wollte. Wie sah Gorbatschows politische Vision für die Sowjetunion aus, wie hätte sie seiner Ansicht nach weiterleben können?
Ignaz Lozo: Gorbatschow wollte zwar das totalitäre Sowjetsystem abschaffen, was ihm auch gelang. Er wollte aber die Sowjetunion als Gesamtstaat erhalten – als demokratisiertes Gemeinwesen mit großzügiger Eigenständigkeit für die einzelnen Republiken unter Beibehaltung des Machtzentrums Moskau. Die Republiken nahmen sich dann aber die völlige Unabhängigkeit von Moskau, als sie sahen, dass Gorbatschow den Zentralstaat mit Gewalt nicht mehr erhalten konnte und es auch nicht wollte.
wbg: Wo sieht Gorbatschow heute die politische Position und Aufgabe Russlands in Europa und der Welt?
Ignaz Lozo: Russlands Position in Europa und der Welt sieht Gorbatschow als gleichberechtigtes Mitglied einer Staatengemeinschaft, die geprägt ist von einer Politik des Ausgleichs, des Respekts und der gegenseitigen Hilfe, die dem Frieden verpflichtet ist. Eine gemeinsame Sicherheitsstruktur, wie sie in der Charta von Paris 1990 zwischen Ost und West angestrebt worden war, wäre sein Ideal. Von „Aufgaben“ des Staates Russland im Sinne von Blockbildung oder dem Errichten und Verteidigen von sogenannten Einflusssphären hält er nichts. Sie laufen seinem politischen Grundcredo zuwider. Auch wenn die weltpolitische Entwicklung jetzt nicht sehr dafür spricht, wird er nicht müde, dazu aufzurufen, Konflikte mit Hilfe des Dialogs beizulegen.
Dieses Interview wurde ursprünglich 2021, anlässlich Michail Gorbatschows 90. Geburtstags, geführt.
Über das Buch »Gorbatschow – Der Weltveränderer«
Glasnost und Perestroika sind untrennbar mit seiner Person verbunden, ebenso wie das Ende des Kalten Krieges: Der sowjetische bzw. russische Politiker Michail Gorbatschow, der selbst die Deutsche Einheit als eine seiner wichtigsten Taten bezeichnet hat, gilt als einer der größten Reformer des 20. Jahrhunderts. Für sein Engagement erhielt er 1990 den Friedensnobelpreis.
Doch wie weit hatte sich der einst treue Leninist und Kommunist wirklich von der Ideologie und vom Block-Denken gelöst? Stimmt das Bild, dass Gorbatschow bereits während seiner Amtszeit ein westlicher Demokrat gewesen sei? Der Osteuropa-Historiker Ignaz Lozo geht diesen Fragen zum Leben eines beeindruckenden Staatsmannes nach.
Ignaz Lozo beschäftigt sich seit 1985 auf journalistischer und wissenschaftlicher Ebene mit Michail Gorbatschow. Auf Basis zahlloser russischer Quellen, die teils als Staatsgeheimnis deklariert sind, sowie dank vieler Gespräche und Interviews mit Gorbatschow, seinen Weggefährten und Gegnern, ist ihm eine äußerst differenzierte Politiker-Biografie gelungen. Sie zeichnet den Werdegang des Bauernjungen aus dem Nordkaukasus zum international anerkannten Staatsmann vielseitig und spannend nach - ein genauso persönliches wie hochpolitisches Porträt.
Weiterführende Links
Bücher zum 90. Geburtstag von Michail Gorbatschow
Zu den Beteiligten
Ignaz Lozo (Jg. 1963) ist promovierter Osteuropahistoriker, ausgebildeter Journalist und Autor zahlreicher ZDF-Dokumentationen zu Russland. 2014 verfasste er die erste wissenschaftliche Monographie über den Putsch gegen Gorbatschow, die als Standardwerk gilt und als Übersetzung auch in Russland erschien.