Die Macht der Erinnerung - zum 100. Todestag von Marcel Proust

In der Rückschau erscheint es fast, als habe Marcel Proust seinen Tod geplant oder zumindest vorausgesehen. Im Frühjahr 1922 teilte er seiner Haushälterin mit, er habe in der letzten Nacht das Wort „Ende“ geschrieben und könne nun sterben. Am 18. November desselben Jahres starb er dann tatsächlich, im Alter von nur 51 Jahren, an einer Lungenentzündung. Doch aufgehört zu leben hatte er – laut seinem Zeitgenossen Paul Morand – schon viel früher.

Die letzten zehn Jahre seines Lebens hatte Proust, der seit seinem zehnten Lebensjahr an Asthma litt, fast ausschließlich in seinem schallisolierten Schlafzimmer verbracht. Tagsüber schlief er, nachts arbeitete er wie ein Besessener an seinem Hauptwerk, dem Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Der erste der insgesamt sieben Bände erschien 1913 – da er von mehreren Verlagen aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt worden war – noch auf eigene Kosten. Die Veröffentlichung des zweiten Bandes folgte, verzögert durch den Ersten Weltkrieg, 1919. Dieser wurde prompt mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, was Proust auf einen Schlag berühmt machte. Den dritten und vierten Band konnte Proust noch selbst veröffentlichen, die letzten drei Bände erschienen posthum in unvollendeter Fassung. Bis zuletzt hatte Proust sie immer wieder überarbeitet.

Das über 4000seitige Monumentalwerk gilt als bedeutendster französischer Roman des 20. Jahrhunderts. Er steht zugleich am Ende und am Anfang einer literarischen Epoche und entzieht sich einer einfachen Interpretation. Gekonnt karikiert wurde dies 1973 vom britischen Comedy-Ensemble „Monty Python“. In ihrem Sketch „The All England Summarize Proust Competition“ sollten die „Teilnehmer“ in 15 Sekunden die Handlung zusammenfassen. Da dies keinem auch nur ansatzweise gelang wurde stattdessen „das Mädchen mit den größten Brüsten“ ausgezeichnet.

Prousts vergleichsweise passiv agierenden, die Handlung kaum vorantreibenden Charaktere stellten einen deutlichen Bruch zu bisherigen Erzählkonventionen dar. „Marcel“, der Protagonist des Romanzyklus, ist unzweifelhaft an Proust selbst angelehnt, unterscheidet sich jedoch in wichtigen Details von diesem. Beim Verzehr von Madeleines (ein französisches Gebäck) mit Tee erinnert sich „Marcel“ unwillkürlich an seine Jugend. Verloren geglaubte Erinnerungen kommen wieder hoch, er reflektiert sein bisheriges Leben, beschließt Schriftsteller zu werden und seine Erlebnisse niederzuschreiben.

Die thematisierten Erlebnisse beziehen sich dabei auf Prousts eigene Biographie. So nimmt etwa die „Dreyfus-Affäre“ einen prominenten Part ein. 1894 war der jüdische Offizier Alfred Dreyfus zu Unrecht – und recht offensichtlich aus antisemitischen Motiven – wegen Landesverrats verurteilt und erst 1906 wieder rehabilitiert worden. Die Affäre hatte die französische Gesellschaft in die „Dreyfusards“ – die an die Unschuld Dreyfus‘ glaubten zu denen auch Marcel Proust gehörte – und die „Anti-Dreyfusards“ gespalten. Proust selbst war zwar katholisch getauft worden und vertrat eine zunehmend atheistische Haltung, war aber mütterlicherseits jüdischer Herkunft. Eine jüdische Herkunft des Protagonisten von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erwähnte Proust dagegen nicht – weshalb ihm Saul Friedländer später die Verleugnung seiner Herkunft vorwarf.

Noch größer ist jedoch der Unterschied zwischen dem Protagonisten und Proust selbst in Bezug auf seine Sexualität. Proust lebte mehr oder weniger offen homosexuell. Sein unmittelbares Umfeld scheint – dies lässt sich aus seiner Korrespondenz erschließen – über seine Neigung informiert gewesen zu sein, öffentlich bekannte er sich jedoch nicht zu seiner Homosexualität. 1897 forderte er sogar einen Kritiker, der ihm – wohl zu Recht – ein homosexuelles Verhältnis unterstellte, zum Duell heraus (beide Duellanten überlebten unverletzt). Der Protagonist in Prousts Romanzyklus hat jedoch mehrere heterosexuelle Liebschaften. Stattdessen werden – für die Zeit recht ausführlich – homosexuelle Beziehungen zwischen anderen Romanfiguren geschildert, sowohl zwischen Frauen als auch zwischen Männern.

Ob Proust diese Änderungen zwischen Ich-Erzähler und seiner eigenen Biographie vornahm um literarische Distanz zu erzeugen oder um seine Privatsphäre zu schützen sei dahingestellt. Der bis heute andauernden Faszination an seinem Zyklus hat dies jedenfalls keinen Abbruch getan.

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