Die einzige vollständig zweisprachige Gesamtausgabe der Werke Platons gehört zu den Meilensteinen des wbg-Programms. Mit der textkritischen Überarbeitung und teilweisen Neuübersetzung der klassischen Übertragungen von Friedrich Schleiermacher und Hieronymus Müller macht sie Platons Denken für den modernen Leser zugänglich. Warum aber gilt Platon bis heute als einer der wichtigsten Philosophen, zu dem alle späteren doch nur "eine Reihe von Fußnoten" (Alfred North Withehead) geliefert haben? Und was machte sein Denken und Schreiben aus?
Vergleicht man die antike Philosophie mit ihren neuzeitlichen und gegenwärtigen Pendants, so fällt ein Unterschied sofort ins Auge: Während sich die Philosophen später weitgehend auf die literarische Form der Abhandlung bzw. des Traktats verlegten, begegnet man in der Frühphase der Philosophie einer bemerkenswerten Vielfalt von ganz unterschiedlichen Formen. Wir finden über die verschiedenen Epochen und Räume der Antike verteilt so unterschiedliche Gattungen wie Lehrgedichte (z.B. bei Parmenides und beim römischen Epikureer Lukrez), Sammlungen von Sprüchen bzw. Sentenzen (etwa bei Heraklit oder Epiktet), Briefe (man denke hier an Senecas Epistulae morales ad Lucilium), Pragmatien (bei Aristoteles) und – insbesondere bei den spätantiken Neuplatonikern – Kommentare. Die Wahl der jeweiligen Form, in der man seine Gedanken auszudrücken und für die Leserschaft zugänglich zu machen versuchte, war dabei nie zufällig oder äußerlich, sondern stets von der philosophischen Intention der Autoren geprägt: Literarische Form und philosophischer Inhalt sind auf das Engste miteinander verwoben.
Das soeben Gesagte trifft in höchstem Maße auf eine noch nicht erwähnte literarische Gattung zu: den Dialog, der vielen als die prägendste Form der antiken Philosophie gilt. Dafür verantwortlich sind wesentlich die überlieferten Werke Platons, die zum größten Teil aus Dialogen bestehen, in denen er seinen Lehrer Sokrates mit seinen athenischen Mitbürgern, mit seinen philosophischen Gegnern (hier allen voran den Sophisten) und mit seinen Schülern Unterredungen über diverse Themen führen lässt. Dabei geht es anfänglich v.a. um Fragen der Moral und der Lebensführung: Nachdem sich die sog. vorsokratischen Philosophen v.a. in kosmologischen Spekulationen über den Ursprung (grch. archê) der Welt betätigt hatten, holte Sokrates „die Philosophie als erster vom Himmel herab, machte sie in den Städten heimisch und führte sie sogar in die Häuser ein; und er zwang sie, über das Leben, die Sitten und die guten und schlechten Dinge Untersuchungen anzustellen“ (Cicero, Tusculanae Disputationes V, 10).
Doch das Corpus Platonicum bleibt nicht auf die Ethik fixiert, sondern schreitet den gesamten Bereich des wissenschaftlichen Forschens und Fragens ab: die Ontologie, die Erkenntnistheorie, die Psychologie, die Naturphilosophie, die Politik und letztlich auch die Theologie. Über die inhaltliche Kontinuität innerhalb des platonischen Gesamtwerks über die drei weitgehend anerkannten Schaffensphasen – frühes, mittleres und spätes Werk – hinweg wird in der Forschung oft gestritten: Unitarier, die eine Einheit der platonischen Philosophie vertreten, stehen Developmentalisten gegenüber, die Brüche und Entwicklungen im Corpus Platonicum diagnostizieren. Was aber unbestrittenermaßen konstant bleibt (selbst wenn im platonischen Spätwerk Sokrates als Gesprächsführer zunehmend von der literarischen Bühne verschwindet), ist die Form, in der sich dieses Denken darbietet, nämlich der Dialog. Warum gestaltet Platon seine philosophischen Werke so konsequent dialogisch? Hier gibt es verschiedene Erklärungsansätze, von denen im Folgenden die wichtigsten zumindest angerissen seien:
Zuerst ist sicherlich auf die alles überragende Figur seines Lehrers Sokrates zu verweisen, der selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat und dem Platon – wie manch anderer sokratischer Eleve (z.B. Xenophon) – zweifelsfrei ein philosophisches Denkmal setzen wollte. Sokrates versteht Philosophie nicht als einsames Denken im viel gescholtenen Elfenbeinturm, sondern als öffentliche Tätigkeit, als agorazein (zu Deutsch: „auf den Markt gehen“). Sokrates verwickelt andere Menschen ins Gespräch und prüft ihre Meinungen bzw. Lebensauffassungen auf Herz und Nieren. Fast immer scheitern sie beim Abliefern dieser Rechtfertigung (grch. logon didonai) an den geschickten Nachfragen des Sokrates, der sie in Widersprüche verwickelt und ihnen gerade dadurch zu einer zentralen Selbsterkenntnis verhilft: nämlich dass sie, entgegen ihrer festgefügten Auffassung vor dem Gespräch mit Sokrates, gar nichts sicher wissen, sondern bloß fälschlich glauben, etwas zu wissen. Sokratische Gespräche haben somit eine eminent pädagogische Dimension, und diese wird in den platonischen Dialogen ebenfalls verfolgt.
In der Art der Gesprächsführung, die Sokrates praktiziert, scheint auch eine philosophische Grundhaltung durch, die er in die berühmte Formel gekleidet hat, dass er – im Gegensatz zu seinen Gesprächspartnern – im Wesentlichen wisse, dass er nichts weiß: Deshalb frage er bloß die anderen und halte sich mit eigenen Meinungen zurück. Das sollte man nicht als fundamentalen Skeptizismus missverstehen, der die Erkennbarkeit der Welt in Abrede stellt. Wichtiger ist die damit verbundene Idee, dass Wissen sich erst einmal im Dialog zu bewähren hat, oder anders gesagt: dass Wahrheitssuche grundsätzlich ein gemeinsam betriebenes Unternehmen ist. Das bewahrt vor scheuklappenartigem Denken und einem Dogmatismus, der seine eigenen Voraussetzungen nicht mehr zu hinterfragen weiß (oder dazu nicht mehr bereit ist). Auch wenn es prima facie im mittleren und späteren Werk bei Platon deutlich thesenartiger zugeht als in den sokratischen Frühdialogen, darf man eines nicht vergessen: Selbst die oft so titulierte „Ideenlehre“, die in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des platonischen Œuvres tiefe Spuren hinterlassen hat, wird von Sokrates kurz vor seinem Tod (im Dialog Phaidon) wesentlich als eine Hypothese gekennzeichnet, die es weiter zu prüfen gilt. Es ist somit kein Zufall, dass sich in der von Platon gegründeten Akademie später eine dezidiert skeptische Richtung ausformte: Diese betrachtete gerade die Dialogform als Medium und Methode eines Philosophierens, das Wahrheitsansprüche nicht dogmatisch statuiert, sondern erst einmal zur Diskussion stellt.
Man kann die Wahl der dialogischen Gattung bei Platon auch als eine besonders geschickte Form der Camouflage deuten: Im Gegensatz z.B. zu Cicero, der sich in seinen Dialogen regelmäßig selbst als Protagonist inszeniert, tritt Platon nie als namentlich gekennzeichneter Sprecher in seinen eigenen Werken auf. Damit hat er zugleich ein hermeneutisches Minenfeld angelegt, das oft mit dem Kürzel „Sokrates-Problem“ gekennzeichnet wird: Darf man die literarische Figur des Sokrates nun als Sprecher für Platon betrachten – oder eben doch nicht? Und kann man aus dem Corpus Platonicum so etwas wie den ‚historischen‘ Sokrates und seine philosophischen Auffassungen herausdestillieren, im Unterschied zu späteren Erweiterungen oder Änderungen durch Platon? Auch hier ist die Platon-Philologie und die philosophische Geschichtsschreibung gespalten.
Unzweifelhaft ist, dass man die Dialoge nicht als akkurate Protokolle realer Unterredungen, also als historische Dokumente lesen darf. Sie sind vom Autor Platon in hohem Maße literarisch geformt: Obwohl er selbst in der Politeia (X, 607b) den „alten Streit zwischen Philosophie und Dichtung“ beschwört und die Dichter letztlich aus dem Idealstaat verbannt, sind die literarischen Qualitäten des Corpus Platonicum – v.a. seine stilistische Bandbreite – zu Recht immer wieder gerühmt worden. Zudem bilden die Dialoge insgesamt ein kunstvolles Geflecht mit zahlreichen impliziten Querverweisen und Bezugnahmen. Die platonischen Dialoge sind mithin zu perfekt komponiert, um die Wiedergabe wirklicher Unterredungen zu sein.
Das schließt freilich nicht aus, dass manche dieser Dialoge eine Art historischen Kern haben; zumindest fällt auf, dass Platon nicht rein fiktive, sondern größtenteils prosopographisch belegte Zeitgenossen als Protagonisten auftreten lässt. Diese Personen stehen gewissermaßen mit ihrer Lebensführung für die von ihnen vertretenen Auffassungen ein, was den Dialogen zugleich eine existenzielle Relevanz verleiht: Die Gesprächspartner werden letztlich in ihren Lebensentwürfen geprüft. Und das ist zugleich auch eine Botschaft an die Leserschaft, die als weiteres Publikum der Gespräche zu sehen ist: Hier werden grundlegende Themen verhandelt, die jeden realen Menschen betreffen. Die LeserInnen müssen sich gerade aufgrund der dialogischen Offenheit letztlich selbst ein Urteil zur diskutierten Thematik bilden und erhalten nichts mundwarm dogmatisch serviert. Das platonische Philosophieren im Dialog findet somit nicht nur zwischen den Protagonisten auf der Ebene des Gesprächs statt, sondern auf einer Meta-Ebene auch zwischen uns selbst und dem Autor Platon (oder, postmoderner gesprochen, dem Text).
Die Lektüre der Dialoge war dabei von Platon keineswegs als der ganze Inhalt und Abschluss des philosophischen Gesprächs mit seiner Leserschaft konzipiert, sondern als ein weiter zu vertiefender Anfang: Die uns vorliegenden Werke sind zugleich als protreptische Werbeschriften für die platonische Akademie abgefasst, mit denen man weitere Adepten für eine intensivere Beschäftigung mit der Philosophie gewinnen wollte. Hinter dem publizierten Dialogwerk steht wohl eine „ungeschriebene Lehre“, deren mündliche Vermittlung den Angehörigen der Akademie vorbehalten blieb. Deren Gehalt und ihr genaues Verhältnis zum vorliegenden Corpus Platonicum sind allerdings, mit Fontane gesprochen, definitiv „ein weites Feld“, über das sich trefflich räsonieren und spekulieren lässt. Aber auch wenn man (wie insbesondere die sog. „Tübinger Schule“) das überlieferte Dialogwerk nicht für das letzte philosophische Wort Platons hält, kann doch zumindest an einem Zusammenhang kein ernsthafter Zweifel bestehen: Das Dialogische – ob nun mündlich oder schriftlich – ist ein wesentlicher Kern platonischen Philosophierens, in dem Inhalt und Form eine glückliche Synthese eingehen.
Hinter dem platonischen Dialogwerk steht eine wertvolle philosophische Grundeinsicht: Wahre Philosophie findet immer im Gespräch statt, in der Antike wie heute. Zu solchen engagierten philosophischen Gesprächen lädt das Corpus Platonicum auch über die Jahrhunderte hinweg mit unverminderter Strahlkraft ein.
Jörn Müller, geb. 1969, Dr. phil. habil., ist ordentlicher Professor für antike und mittelalterliche Philosophie an der Universität Würzburg und Autor sowie Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zur Geschichte der Philosophie und zur philosophischen Ethik. Bei der wbg ist er u.a. Mitherausgeber des Bandes Menschliche Fähigkeiten und komplexe Behinderungen. Philosophie und Sonderpädagogik im Gespräch mit Martha Nussbaum (2018).
Platons Werke sind für G. W. F. Hegel »...ohne Zweifel eines der schönsten Geschenke, welche uns das Schicksal aus dem Altertum aufbewahrt hat. « »Alle spätere Philosophie ist doch nur eine Fußnote zu Platon«, so die Einschätzung von Alfred North Withehead. Die vorliegende Ausgabe ist die einzige komplett lieferbare zweisprachige Edition der sämtlichen Werke Platons. Sie enthält eine textkritische Überarbeitung und teilweise Neuübersetzung der klassischen Übertragungen von Friedrich Schleiermacher und Hieronymus Müller auf der Basis neuerer Forschung. Übersetzungs- und Textvarianten sind angegeben. Griech. / dt. Der griechische Text stammt aus der Sammlung Budé (Les Belles Lettres, Paris). Hrsg. und überarb. von Gunther Eigler unter Mitarb. von Heinz Hofmann, Dietrich Kurz, Klaus Schöpsdau, Peter Staudacher und Klaus Widdra. Jubiläumsausgabe 2019. 8. Auflage,Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1977. 8 Bände in Schmuck-Kassette (Band 8 in 2 Teilbänden; nur geschl. beziehb). Zus. 5384 S., geb., 11, 8 x 19,3 cm, Ganzleinen. wbg Edition, Darmstadt.