Literaturkritiker Denis Scheck bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“ (Sommerpause bis zur nächsten Sendung am 15. September 23 Uhr 35).
Platz 10: Harald Jähner: ›Wolfszeit‹ (Rowohlt Berlin, 480 S. 26 €)
Harald Jähner entführt in seiner wunderbar materialreichen Mentalitätsgeschichte uns Leser in die Zeit der Hamsterer, Schwarzmarkthändler und Trümmerfrauen und hält einige notwendige historische Einsichten zum ökonomischen Wiederaufstieg Deutschlands parat: „Diese Glück ist ganz und gar unverdient“, so Jähner. „Mit historischer Gerechtigkeit hatte es nichts zu tun, dass sich die Deutschen in Ost und West binnen weniger Jahre wirtschaftlich an die Spitze ihrer jeweiligen Weltmachtblöcke hocharbeiteten.“
Platz 9: Jürgen Todenhöfer: ›Die große Heuchelei‹ (Propyläen, 336 S. 19,99 €)
Jürgen Todenhöfer will mit diesem Buch die Außenpolitik des Westens als interessengeleitet und egoistisch enttarnen. Nur ist seine Schreibe dabei so konfus, daß sie Kopfschmerzen in mir auslöst. Stringenz wird man in diesem Gehecksel von einem Sachbuch vergebens suchen, alles wird hier unentwegt mit allem vermengt: Augenzeugenberichte vom Krieg in Mossul, Reisefeuilletons, weltpolitische Betrachtungen, historische Reflexionen. Ergebnis sind Sätze wie: „Viele Muslime in Deutschland haben inzwischen Angst.“, „Doch das Mittelalter … war eines der dunkelsten Zeitalter der europäischen Geschichte.“, „Ich habe mich oft gefragt, wie ein demokratischer Staat wie die USA andere Länder so erbarmungslos und töricht zerschmettern kann.“ „Der Westen braucht eine gewaltfreie humanistische Revolution.“ Was dieses Buch gebraucht hätte, wäre einen Autor mit einer längeren Aufmerksamkeitsspanne als ein Wellensittich.
Platz 8: Thunberg, Greta; Thunberg, Svante; Ernman, Malena; Ernman, Beata: ›Szenen aus dem Herzen‹ (Deutsch von Ulla Ackermann, Stefan Pluschkat und Gesa Kunter, S. Fischer, 256 S. 18 €)
Die unerschütterliche Überzeugung, daß das eigene Begehren – egal ob Schokoladenkekse futtern, eine Mauer zu Mexiko bauen oder Klima schützen - die wichtigste Sache der Welt ist und daher absoluten Vorrang besitzt, verbindet alle Narzissten. Wenn wie in diesem Fall sich mütterliche Besserwisserei und protestantische Glaubensgewißheit mit moralischer Überheblichkeit verbindet, liest sich das, als hätten sich Erhard Eppler, Margot Käßmann und Paolo Coelho zusammengetan, um das Sachbuch der Hölle zu schreiben. „Unser Schicksal ruht in den Händen der Medien. Niemand sonst kann in der verschwindend kurzen Zeit, die uns noch bleibt, vergleichbar viele Menschen erreichen. Eine Krise können wir nur dann lösen, wenn wir sie auch wie eine Krise behandeln.“ Wenn die Klimakrise Bücher wie dieses produziert, ist es wirklich an der Zeit zu handeln!
Platz 7: Gustav Dobos: ›Das gestresste Herz‹ (Scorpio, 272 S., 20 €)
Kompetente Gesundheitheitstips von einem erfahrenen Internisten, ein Mutmachbuch nicht nur für Herzkranke: „80 Prozent aller Schlaganfälle und sogar 90 Prozent aller Herzinfarkte haben ihre Ursachen in unseren Lebensgewohnheiten!“ Besonders interessant fand ich den Befund, daß Depression für mehr Herzkrankheiten verantwortlich ist als Rauchen.
Platz 6: Meike Winnemuth: ›Bin im Garten‹ (Penguin, 320 S., 22 €)
Kompetente Gartentips von einer Journalistin und Sachbuchautorin mit einer gewinnenden Schreibe.
Platz 5: Michelle Obama: ›Becoming‹ (Deutsch von Harriet Fricke, Tanja Handels, Elke Link, Andrea O’Brien, Jan Schönherr und Henriette Zeltner, Goldmann, 544 S. 26 €)
Schon wieder ein Schauspieler-Buch: Erbarmen! Natürlich hätte kein Verlag der Welt diese Schnurren veröffentlicht, hieße der Autor Müller, Meier, Schmitz. Doch Milbergs trügerisch harmlose Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Kiel langweilen keine Sekunde, im Gegenteil: sie entfalten Sog und Charme, dem man sich schwer entziehen kann. Weltliteratur ist das nicht, aber Lesefutter, das nach der Lektüre keinen blöder zurückläßt als beim Aufschlagen.
Platz 4: Joachim Gauck und Helga Hirsch: ›Toleranz: einfach schwer‹ (Herder, 224 S., 22 €)
Das Beispiel der bei den Wahlen zum Bundestagsvizepräsidenten des Deutschen Bundestages immer wieder durchgefallenen AFD-Kandidaten macht die Brisanz des Themas deutlich: mit wieviel Toleranz wollen wir politisch oder religiös Andersdenkenden begegnen? Gewohnt klug und abwägend denkt Altbundespräsident Gauck in diesem Buch darüber nach und scheut sich nicht vor deutlichen Worten, etwa wenn der die stilistischen Kaspereien der Gendergerechten als „eine Zumutung und eine Verunstaltung der Sprache“ bezeichnet.
Platz 3: Stephen Hawking: ›Kurze Antworten auf große Fragen‹ (Deutsch von Susanne Held und Hainer Kober, Klett-Cotta, 253 S. , 20 €)
Stephen Hawkings letztes Buch ist eine intellektuelle Freude: mit seinem einzigartigen Talent, komplexe Zusammenhänge leicht faßlich darzustellen, beweist der bis zuletzt neugierige und wissensdurstige Astrophysiker auf kleinstem Raum: Aufklärung ist machbar!
Platz 2: Michael Winterhoff: ›Deutschland verdummt‹ (Gütersloher Verlagshaus, 224 S. 20 €)
Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff sieht die Ursachen für die angebliche Verdummung Deutschlands darin, daß immer mehr Menschen Kinder haben, die nicht „in sich ruhen“, und daß diesen Kindern im Kindergarten und der Schule Orientierung und Bindung vorenthalten wird. Aber stimmt die im Titel formulierte steile These überhaupt? Waren die Deutschen etwa der Jahre 1914, 1933 oder 1939 wirklich klüger als wir Deutschen heute? Und wäre eine mögliche Ursache unserer Verdummung nicht auch der Trend zu immer alarmistischeren Sachbüchern wie diesem?
Platz 1: Bas Kast: ›Der Ernährungskompass‹ (C. Bertelsmann, 320 S. 20 €)
Konzentration auf Gemüse und nicht industriell verarbeitete Nahrungsmittel, Abnehmen mit Low Carb, Zeitfenster-Diät und mehr Eiweiß, Schluß mit der Verteufelung von Fett, wenig Zucker, keine Vitaminpillen und keine Transfette: so lauten die Ernährunstips des Wissenschaftsjournalisten Bas Kast, der für sein Buch eine Meta-Analyse aller zwischen 1950 und 2013 erstellten Ernährungsstudien auswerten konnte. Ein Buch, das ganze Regalmeter von Ratgebern ersetzt.
Zuletzt positiv bewertete Titel der Spiegel Bestseller durch Denis Scheck
Elli Radinger ›Die Weisheit alter Hunde‹ – 2018. 320 S., HC. Ludwig, München.
Yuval Noah Harari ›21 Lektionen für das 21. Jahrhundert‹ – 2018. Etwa 448 S., geb. mit SU. C.H.Beck, München.
Anne Fleck ›Heilen mit dem Gesundmacher Fett‹ – 2019. 432 S., mit zahlr. farb. Abb., 22,0 x 15,0 cm, geb. mit SU. Wunderlich, Reinbek.
Bas Kast ›Der Ernährungskompass‹ – 2018. 320 S. mit s/w Abb., 13,5 x 21,5 cm, geb. mit SU. C. Bertelsmann, München.
Stephen Hawking ›Kurze Antworten auf große Fragen‹ – 2018. 255 S., s/w-Abb., 19,6 x 12,4 cm, geb. mit SU. Klett-Cotta, Stuttgart.
Michelle Obama ›Becoming‹– 2018. 544 S. mit 16-seitigem Bildteil in Farbe, 15,0 x 22,7 cm, geb. mit SU. Goldmann, München.
Harald Jähner ›Wolfszeit‹ – 2019. 480 S. mit zahlr. s/w-Abb., 21,9 x 15,1 cm, geb. mit SU. Rowohlt, Hamburg.
Andrea Wulf / Lillian Melcher ›Die Abenteuer des Alexander von Humboldt‹ – 2019. 272 S. durchgängig farb. illustr., 21 x 27 cm, geb., Halbln. Verlagsgruppe Random House GmbH / C. Bertelsmann, München.
Ian Kershaw ›Achterbahn‹ – 2019, 832 S., 15 x 22,7 cm, geb. mit SU. Verlagsgruppe Random House/DVA Verlag, München.
Gustav Dobos ›Das gestresste Herz‹ – 2019. 272 S., zweifarbig, 13,5 x 21,5 cm, geb. Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, München.
Meike Winnemuth ›Bin im Garten‹ – 2019. 320S. mit Illustrationen und Fotos, 13,5 x 21,5 cm, geb. mit SU. Verlagsgruppe Random House GmbH / Penguin Verlag, München.
Joachim Gauck / Helga Hirsch ›Toleranz‹ – 2019. 224 S., geb. mit SU. Verlag Herder, Freiburg.