Druckfrisch Bestseller-Listen vom 2.06.2019

Literaturkritiker Denis Scheck bespricht einmal monatlich die ›Spiegel‹-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung ›Druckfrisch‹ (Nächste Sendung 2. Juni 23 Uhr 35, Gäste Zadie Smith, Nell Zink).

 

Platz 10: Anne Frank: ›Liebe Kitty‹ (Secession, 208 S., 18 €)

Für Experten nichts Neues, für neugierige Leser etwas Sensationelles bietet dieses Buch von Anne Frank, die am 12. Juni 90 Jahre alt geworden wäre, aber mit 15 Jahren von uns Deutschen im KZ Bergen Belsen umgebracht wurde. Es handelt sich um die literarisierte Version ihres Tagesbuchs, die sogenannte Version B, die auch schon in der Gesamtausgabe bei S. Fischer enthalten war, aber nun separat und in einer neuen Übersetzung von Waltraud Hüsmert bei Secession veröffentlicht wurde. „Liebe Kitty“ führt klar vor Augen, daß Anne Frank wirklich auf dem Sprung war, eine große Schriftstellerin mit brillanter Beobachtungsgabe zu werden. Einsamkeit und Verlassenheit als existentielle Grunderfahrung: das sind die ewig aktuellen Themen dieses Textes von einer jungen Frau, die zerum Spiegel ihrer Epoche wurde.

 

Platz 9: Daniela Krien: ›Die Liebe im Ernstfall‹ (Diogenes, 288 S., 22 €)

Lange habe ich keinen so gleichermaßen unterhaltsamen wie psychologisch klugen Roman über die Lebens- und Liebeswirklichkeit erwachsener Menschen in der deutschen Gegenwart gelesen. Am Beispiel von fünf Frauen erzählt Krieg in geschickt vernetzten Geschichten vom kleinen Alltagsglück, gescheiterten Lebensentwürfen, hohen Ansprüchen und vom Ankommen in der Wirklichkeit. Ideale Ferienlektüre!

 

Platz 8: Walter Moers: ›Der Bücherdrache‹ (Penguin, 190 S., 22 €)

Ein charmantes Nebenwerk aus dem Zamonien-Kosmos von Walter Moers, in dem ein Buchling dem Dichterfürsten Hildegunst von Mythenmetz von seinem Abenteuer mit dem Bücherdrachen Nathaviel erzählt. Die phantasievolle und hoch ironische Geschichte um Drachen, Wälzer und Literaturmüll zeigt Walter Moers in alter Form.

 

Platz 7: Sacha Stanisic: ›Herkunft‹ (Luchterhand, 368 S., 20 €)

Hinreißend schlau, augenöffnend erkenntnisträchtig: Sasa Stanisic, der 1992 als Bürgerkriegsflüchtling nach Deutschland kam, ohne ein Wort Deutsch zu können, hat eines der seltenen Bücher geschrieben, das einem gleichermaßen ästhetische wie politische Hoffnung einflößt. Genau das schafft seit Schillers Zeiten große Kunst.

 

Platz 6: Sibylle Berg: ›GRM‹ (Kiepenheuer & Witsch, 640 S. 25 €)

Hoffnung hat Sibylle Berg in ihrer düsteren Science Fiction nun gerade nicht im Angebot – sie malt in diesem dystopischen Roman, der vier Jugendliche aus dem desolaten Industriestädtchen Rochdale nach London begleitet, Schwarz in Schwarz. Und das ermüdet über 600 lange und redundante Seiten. Zwar enthält der nach einem nervigen Hip-Hop Musikstil benannte Roman einige schöne Sätze und Einsichten wie: „Das fucking Netz ist zur Leni Riefenstahl der Welt geworden. Ein Ort der Verblödung, Verhetzung, der Manipulation und der Frustration.“, aber bei allem Respekt vor der großen Sibylle Berg: für eine überzeugende Zukunftsvision mangelt es diesem ausgewalzten Sozialporno schlicht an Ideen.

 

Platz 5: Axel Milberg: ›Düsternbrook‹ (Piper, 288 S., 22 €)

Schon wieder ein Schauspieler-Buch: Erbarmen! Natürlich hätte kein Verlag der Welt diese Schnurren veröffentlicht, hieße der Autor Müller, Meier, Schmitz. Doch Milbergs trügerisch harmlose Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Kiel langweilen keine Sekunde, im Gegenteil: sie entfalten Sog und Charme, dem man sich schwer entziehen kann. Weltliteratur ist das nicht, aber Lesefutter, das nach der Lektüre keinen blöder zurückläßt als beim Aufschlagen.

 

Platz 4: Dörte Hansen: ›Mittagsstunde‹ (Penguin, 320 S., 22 €)

Vom Tod des Dorflebens, also wie die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Flurbereinigung und die Landflucht einer lange Zeit in Deutschland dominierenden Lebensform den Garaus gemacht hat, davon erzählt Dörte Hansen in ihrem zweitem Roman, der ein literarisches Ereignis ist.

 

Platz 3: Simon Beckett: ›Die ewigen Toten‹ (Deutsch von Karen Witthuhn und Sabine Längsfeld, Wunderlich, 480 S., 22,95 €)

Schwer traumatisiert vom Tod seiner Frau und seiner Tochter widmet sich der forensische Anthropologe Dr. David Hunter in diesem Krimi der Frage, wer Menschen lebendig in ein verlassenes Krankenhaus in North London eingemauert und dort sterben lassen hat. Ein stilistisch ödes, was den Suspense anlangt langweiliges, ein unnötiges Buch.

 

Platz 2: Martin Walker: ›Menu surprise‹ (Deutsch von Michael Windgassen, Diogenes, 432 S., 24 €)

Die literarische DNA dieses betulichen Konfektionskrimis um eine ermordete Kochschülerin im Périgord stammt aus dem Song „Frankreich“ der Bläck Föös von 1985: „Ich kauf mir ein Baguette und treff mich mit Jeanette./ Da kommt auch noch Claudette. Claudette ist auch sehr nett. / Baguette, Jeanette, Claudette, So nett. et moi. O-la la la la la.” Als Schlager ganz okay, als Roman eher dürftig.

 

Platz 1:  Ferdinand von Schirach: ›Kaffee und Zigaretten‹ (Luchterhand, 192 S, 20 €)

Ein federleichter Reigen autobiographischer Schnurren, historischer Anekdoten und Kürzestgeschichten, in denen sich erstaunlich profunde Sätze finden. Zwei Beispiele: in einer juristischen Meditation schreibt von Schirach etwa: „Die Würde des Menschen ist die strahlende Idee der Aufklärung, sie kann den Hass und die Dummheit lösen, sie ist lebensfreundlich, weil sie von unserer Endlichkeit weiß, und erst durch sie werden wir in einem tiefen und wahren Sinn zu Menschen.“ Noch stärker der Schlußsatz in der Geschichte von der Frau, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat, und die von Schirach denken läßt: „Auch ohne die Begabung glücklich zu sein, gibt es eine Pflicht zu leben“.

 

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