Sabine Leutheusser- Schnarrenberger im Gespräch: Warum wir unsere Freiheitsrechte verteidigen müssen.
»Die Freiheitsrechte zu leben, heißt auch, um die Verantwortung zu wissen, die jeder Einzelne hat.«
Welchen Stellenwert haben die Grundrechte heute – 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes 1949?
Die große Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, die Grund- und Freiheitsrechte nach dem unmenschlichen und entwürdigenden Naziregime in den Mittelpunkt der neuen Weltordnung zu stellen, droht unter die Räder zu geraten. Terrorismus, Vertreibung, Migration, Globalisierung und Digitalisierung führen zu immer mehr Maßnahmen der Politik, die die Freiheitsrechte einschränken. Gleichzeitig werden Ängste vor angeblicher Masseneinwanderung, vor ›den Fremden‹ geschürt. Es wird die Drohkulisse einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Nationalstaats angesichts von Souveränitätsverlust durch Europa und die Globalisierung aufgebaut. Die Menschen haben Angst vor einer unsicheren Zukunft und wünschen sich so viel Sicherheit wie nur möglich. Keine guten Rahmenbedingungen für starke Freiheitsrechte.
Was ist Ihr Anliegen mit diesem Buch ›Angst essen Freiheit auf‹?
Mein Buch ist ein Plädoyer für die Freiheitsrechte. Ich will bewusst machen, dass die Grundrechte im Grundgesetz nicht der Staat gewährt, sondern wir sie als vorgegebene Rechte haben. Es ist eine Liebeserklärung an die Freiheit. Ein Bekenntnis zu dem Wert, der so selbstverständlich von uns allen in Anspruch genommen und doch so wenig wertgeschätzt wird. Und es ist eine Verteidigungsschrift.
Müssen die Grundrechte denn verteidigt werden? Wer oder was bedroht sie?
Feinde der Freiheit gibt es genug. Ein Staat, der eine einseitige Sicherheitspolitik zulasten der Freiheit betreibt und auch vor verfassungswidrigen Eingriffen nicht zurückschreckt. Marktdominante globale Unternehmen, die Unmengen an personenbezogenen Daten speichern, analysieren, vernetzen und verwenden und damit die Privatsphäre und die Persönlichkeitsrechte bedrohen. Demokratiefeindliche Kräfte wie extreme Parteien und Bewegungen, Auslandsgeheimdienste und kriminelle Hacker, die mithilfe der sozialen Medien freie, unabhängige Wahlen durch gezielte Desinformation und Manipulation gefährden.
Und schließlich berauben die Bürger sich ihrer Freiheitsrechte selbst, indem sie bereitwillig auf ihre informationelle Selbstbestimmung verzichten und für angeblich mehr Sicherheit einem autoritären Überwachungsstaat Tür und Tor öffnen. Vom Schüren der Angst bis zu Gleichgültigkeit, von bewusstem Verzicht bis zu rücksichtsloser Inanspruchnahme reichen die Verhaltensweisen, die die Freiheitsrechte gefährden.
Wir leben im digitalen Zeitalter, das neue Möglichkeiten der Überwachung eröffnet, Stichwort Staatstrojaner. Wie kann sich der Einzelne dagegen wehren?
Jeder Bürger und jede Bürgerin sollte eine gewisse Medienkompetenz haben, also Grundkennt nisse über die Wirkungsweisen der von ihnen benutzten mobilen Endgeräte wie dem Smartphone und über die sozialen Medien. Die Facebook-Datenskandale der letzten Monate haben uns die Kehrseite der permanenten Online-Präsenz und den Missbrauch unserer personenbezogenen Daten drastisch vor Augen geführt. Technischer Selbstschutz wie Verschlüsselung sollte selbstverständlich werden.
Gegen unrechtmäßige Eingriffe des Staates in unsere Freiheitsrechte gibt das Bundesverfassungsgericht Schutz. Ich habe mit Freunden und 33 000 Bürgerinnen und Bürgern zum Beispiel erfolgreich gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung geklagt, also die massenhafte Speicherung und Verwendung der technischen Daten, die bei jeder Kommunikation im Internet, aber auch beim Festnetz-Telefonieren anfallen. Das Gesetz dazu war verfassungswidrig. Es wurde leider nur sehr unzureichend geändert und deshalb haben wir wieder dagegen geklagt, das Verfahren ist noch anhängig. Auch gegen den Staatstrojaner, also die Software, mit der Sicherheitsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen den Computer von möglichen Verdächtigen durchsuchen können, habe ich mit einigen liberalen Freunden beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingelegt. Die Grundrechte müssen so gut wie möglich verteidigt werden.
Jeder genießt den Schutz der Grundrechte. Heißt das, dass man nichts dafür tun muss?
Freiheitsrechte leben heißt nicht, jeder kann tun, was er will. Freiheitsrechte leben heißt nicht, dem Egoismus, Hedonismus und dem Recht des Stärkeren das Wort zu reden. Weil für Teile der Zivilbevölkerung die in einer offenen Gesellschaft unverzichtbare Toleranz und der Respekt gegenüber den Mitmenschen nicht mehr zu gelten scheinen, sondern Vorurteile und Hass dominieren, erodieren die Grundlagen unserer offenen Gesellschaft, von der wir alle so sehr proitieren. Die Freiheitsrechte zu leben, heißt auch, um die Verantwortung zu wissen, die für jeden Menschen daraus erwächst – für sich selbst und für andere. Angst darf die Freiheit nicht zerstören. Wir selbst dürfen sie nicht zerstören.
Interview: Regine Gamm, Programmanagerin Geschichte und Altertum
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, geb. 1951, war von 1992 bis 1996 sowie von 2009 bis 2013 Bundesministerin der Justiz. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 2003 bis 2009 war sie Teil des Ausschusses für Recht und Menschenrechte. Nicht nur in dieser Hinsicht zeigt sich ihre besondere Affinität zum Thema, auch ihr Rücktritt aus Gewissensgründen als Justizministerin nach dem Mitgliederentscheid der FDP zum sog. großen Lauschangriff belegt ihr aktives Eintreten für die verfassungsgemäßen Grundrechte. Zahlreiche Ehrenämter und Auszeichnungen (z. B. Hamm-Brücher-Medaille, Paul-Klinger-Preis der Deutschen Angestellten Gewerkschaft und Mona Lisa Frau des Jahres).
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger legt mit diesem Buch ein leidenschaftliches Plädoyer für unsere Freiheitsrechte vor. Sie zeigt, was in den Grundrechten steckt. Was auf dem Spiel steht, wenn sie ausgehöhlt werden. Und sie wird konkret: mit vielen aktuellen Beispielen der Einschränkung unserer Freiheitsrechte.