Ernst Schubert hat mit ›Alltag im Mittelalter‹ einen wahrhaften Klassiker der Alltagsgeschichte und der Mittelalterforschung geschrieben. Es ist eines jener Werke, die scheinbar kein Alter haben, sondern vom ersten Augenblick an aktuell sind und es sehr lange bleiben. Woran liegt das?
Schubert war zeit seines Lebens ein ebenso sorgfältiger wie ideenreicher Autor. Vor allem aber war er unkonventionell, in der Gedankenführung wie in seinem unverwechselbaren Stil. Glänzender Essayist, der er war, vermittelte er seine systematischen Einsichten immer in Anekdoten und erhellte so gewissermaßen unter dem Blitzlicht und für den Moment manche Zusammenhänge, die andere auf vielen Seiten kaum anschaulich machen konnten. Unkonventionell war aber eben auch seine Gedankenführung: Was sprunghaft wirkte und bisweilen zusammenhanglos zu sein schien, das war der erfolgreiche Versuch, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu sehen und diese Perspektiven miteinander so zu verbinden, dass ein Neues daraus entstand. Da mochten dann auch gelegentlich vermeintliche Sicherheiten der Mittelalterforschung in einem einzigen Absatz beiseite gefegt werden, und es soll Kolleginnen und Kollegen seiner Zunft gegeben haben, die das nicht gerne lasen. Vor allem, wenn es sie selber betraf.
Warum das Werk neu lesen? Klassiker sind vor allem deshalb Klassiker, weil immer wieder neues Lesen dieser immer gleichbleibenden Texte eben doch immer wieder einen neuen Erkenntnisgewinn verspricht. Im Falle Schuberts ist das der Fall, und mehr noch: Sein Buch ist ungemein interessant zu lesen. Als hätte er an seinen berühmten französischen Kollegen Marc Bloch (1886–1944) gedacht, der einmal schrieb: »Selbst wenn die Geschichte zu nichts anderem zu gebrauchen wäre, eines muss man ihr sicher zugute halten: sie ist unterhaltsam.« Erkenntnisgewinn und Unterhaltung: Kaum mehr kann man von der Darstellung eines Historikers erwarten. Aber worum geht es bei Schubert eigentlich? Als das Buch 2002 erstmals erschien, trug es die schlichte Widmung »Für Arno Borst«. Borst (1925–2007) war einer der großen Einzelgänger der Mittelalterforschung, dennoch ungemein einflussreich und zugleich anregend. Als Borst 1973 ein Buch unter dem Titel ›Alltagsleben im Mittelalter‹ schrieb, war das zunächst ein klassischer Flop: Es fand in den ersten Jahren nur wenige Leser. In den Achtzigerjahren avancierte es dann zu einem der bedeutendsten Standardwerke der Mittelalterforschung. Noch heute wird es viel gelesen.Schubert war in seinen jungen Jahren eine Zeit lang gemeinsam mit Borst in Konstanz gewesen. Er hat vieles von ihm gelernt, vor allem den Blick für scheinbar entlegene Quellen, für ihre Interpretation und für ihre eindringliche Darstellung. Denn darin liegt eine der Stärken, vielleicht die herausragende Qualität des Schubertschen Werkes überhaupt: im Blick für das leicht zu Übersehende, im Berücksichtigen des scheinbar Abseitigen. Und in der Fähigkeit, das Übersehene zu sehen und das Abseitige ins Zentrum der Überlegungen zu stellen.Deswegen tragen die Kapitel von Schuberts ›Alltag im Mittelalter‹ bisweilen rätselhafte Titel: »Der Verlust der Wildnis« wird behandelt oder »Der lange Weg vom ›Du‹ zum ›Sie‹«. Denn es geht um das natürliche Umfeld des menschlichen Lebens und – in einem zweiten Teil des Werkes – um das menschliche Miteinander. Wo also leben mittelalterliche Menschen und wie leben sie miteinander? Wo leben mittelalterliche Menschen?Das erste Kapitel des Buches beschäftigt sich mit den Veränderungen des Klimas im Mittelalter. Könnte ein fast zwei Jahrzehnte altes Buch aktueller sein? Über Wald und Wasser geht es weiter bis zu Überlegungen zum mittelalterlichen Natur- und Umweltbewusstsein. Nochmals: Aktueller geht es kaum. Und aktuell ist auch der letzte Satz dieses ersten Teils: »Wir sahen (…) die alte Erfahrung von Historikern bestätigt, daß die Antworten der Geschichte auf die Fragen der Gegenwart dem Stimmengewirr einer erregten Talkshow gleichen, in der allenfalls ein brutal vereinfachender Moderator etwas Ordnung schaffen kann.«
Da steckt auch Autobiographisches über den Autor drin: Antworten der Geschichte auf Fragen der Gegenwart zu suchen, sie zu ordnen, nicht ohne Entschiedenheit, aber eben mit demjenigen Respekt, der das Ernstnehmen der Vergangenheit zur Folge hat. Wie leben mittelalterliche Menschen miteinander? Vom Miteinander-Reden über das Du oder Sie bis zu den Techniken der Beschimpfung, zu Flüchen und Segenssprüchen geht die Kapitelfolge. Darauf muss man erst einmal kommen! Und reichlich acht Seiten über Beschimpfungen zu schreiben, aber ganze drei über »Freundschaft, Gesellschaft, Nachbarschaft«: Was für eine Gewichtung! Und dann schließt der zweite Teil mit einem langen Kapitel zur Liebe und mit dem Zitat eines antiken Spruchs, der dem Mittelalter vertraut war: »Wenn Du geliebt werden willst, liebe!« Autobiographisch wieder? Es reizt, diesen so aktuellen und alterslosen Band auch als Zeugnis seines Verfassers zu lesen.
Schuberts »Alltag im Mittelalter« endet mit einem der gedanklich eindrucksvollsten Texte zum heutigen Mittelalterbild überhaupt: »Wie ›mittelalterlich‹ war das Mittelalter?« Da geht jemand mit den modernen Vorstellungen über das Mittelalter-Jahrtausend ins Gericht, mit seiner Verleumdung spätestens seit der Aufklärung, mit mittelalterlichen Schauprozessen gegen Johannes Hus und ihren Analogien zu heutigen politischen Abrechnungen in Prozessgestalt. Da wird der mittelalterliche Vorläufer von Karneval und Fasnacht als Möglichkeit der Kritik an Obrigkeiten und Ständen geschildert. Und urplötzlich begegnet dann der Trierer Maler Heinrich, der bei einem Bigamieprozess treuherzig versichert, er lebe nicht in einer Doppelehe, sondern habe nur 40mal mit einer anderen Frau geschlafen. Schubert: »eine erstaunlich große Zahl, zumal wenn bedacht wird, dass man selbst in Klerikerkreisen einigermaßen nur bis 40 zählen konnte, weil die Fastenzeit (…) vierzig Tage dauert.« Systematische Einsichten aus dem Abseitigen, unkonventionell in der Gedankenführung wie im Stil: Das bietet Schuberts ›Alltag im Mittelalter‹. Es ist gut, dass dieser Band wieder aufgelegt worden ist.
Thomas Vogtherr ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Osnabrück.
Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Niedersächsische Landesgeschichte, die Kirchengeschichte des Mittelalters sowie die Historischen Hilfswissenschaften, insbesondere die Diplomatik.