DEM GROßEN HISTORIKER UND FRANZÖSISCHEN WAHL-BERLINER ETIENNE FRANÇOIS ZUM 80. GEBURTSTAG
von Wolf Lepenies
(Der folgende Text geht auf die Laudatio zurück, die ich im November 2017 gehalten habe, als Etienne François der Prix de l´Académie de Berlin verliehen wurde.)
Plötzlich hört man aus der Gegend von Meudon, wenige Kilometer vor Paris, Kanonendonner.
In der rue du Montparnasse unterbricht der Kritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve das Diktat einer neuen Causerie du Lundi, es ist ein Augenblick höchster Konzentration, in dem sich jahrelange Erfahrung, monatliche Lektüre und allwöchentliche Recherche zu einem Tagestext verdichten, der den Montag in Frankreich über Jahrzehnte zum literarischen Streit- und Feiertag macht. Als ob er im Manöverlärm den Deutsch-Französischen Krieg vorausahnt, der 1870, zwei Jahre nach seinem Tod ausbrechen wird, entwirft Sainte-Beuve im Gespräch mit seinem Sekretär eine Utopie der deutsch-französischen Annäherung von ironischer Kühnheit:
»Ich weiß nicht, was man [bei diesen Manövern] plant [...], anstatt die eine gegen die andere der beiden großen Mächte aufzuhetzen, die sich, wie Frankreich und Preußen, an der Spitze der europäischen Zivilisation befinden, wäre es doch viel besser, sie einander näherzubringen ... seiner militärischen Stärke und seines wissenschaftlichen Genies wegen käme für uns, die wir stark und ein Land des Fortschritts sind, eine Allianz mit Preußen am ehesten in Frage ... Es wäre viel besser, statt an einen Zusammenprall der beiden Kolosse zu denken, zwei Schulen zu schaffen, eine in Berlin, die andere in Paris. Ihre Jugend würde zu uns kommen, um sich zu mäßigen und geschmeidiger zu werden: sie würde dabei nichts von ihrer Kraft verlieren und etwas von unserer Zuvorkommenheit des Geistes annehmen; wir dagegen würden die Elite unserer Fakultäten in ihre Labors schicken, die reicher ausgestattet sind als die unsrigen, damit sie sich im Kontakt mit diesem rauen Volk stärkt, das, wenn man so will, so barbarisch ist wie die Mazedonier ... [die Preußen] sind die modernen Mazedonier und umso mehr zu fürchten.«
Die Utopie Sainte-Beuves verwirklicht sich 1992 in Berlin – mit der Gründung des Centre franco-allemand en sciences sociales das nach dem großen Historiker Marc Bloch genannt wird. Und Gründungsdirektor, der das Centre Marc Bloch bis 1999 leitet, wird Etienne François.
In die neue Institution wurden große Hoffnungen gesetzt - und wurden übertroffen: Unter der Leitung von Etienne François nahm das Centre Marc Bloch eine glänzende Entwicklung.
Etienne François ist Franzose, aber er hat einen großen Teil seines professionellen Lebens in Deutschland verbracht und hat, lange bevor er auch die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, nie ein Hehl daraus gemacht, wie nahe er sich dem deutschen Geistesleben fühlte. Er lief damit die gleiche Gefahr wie einst der junge normalien Raymond Aron, der seine Pariser Prüfungskommission durch die Detailkenntnis der deutschen Geschichtsphilosophie derart schockierte, dass ein Prüfer entsetzt ausrief:
»Mais Monsieur, la pensée allemande a complètement déteint sur la vôtre...«
Etienne François ist Franzose und Deutscher, er ist mit deutschen und französischen Orden ausgezeichnet worden, er hat 1990 den Prix France-Allemagne erhalten, er ist eine deutsch-französische Akademie in einer Person - und dennoch hat er sich nicht in den Fallen des Bilateralismus verfangen. Schon 1998 schrieb er, es sei höchste Zeit, „von der bilateralen Versöhnung zur multilateralen Zukunftsbewältigung“ zu gelangen. Auch wenn französische wie deutsche Politiker versucht haben, dieser Aufforderung gerecht zu werden – sie ist aktueller denn je.
Das Centre Marc Bloch ist unter der Leitung von Etienne François nicht zuletzt deshalb eine europäische Institution geworden, weil er - aus dem fernen Westen stammend, geboren in Rouen, ausgebildet zunächst in Nancy und dann am Lycée Louis-le-Grand und an der Ecole Normale Supérieure in Paris - schneller als viele Westdeutsche gemerkt hatte, dass man in Berlin - und hier liegt ein Unterschied zur alten Bonner Republik - die deutsch-französische Kooperation nachhaltig nicht befördern kann, ohne die Länder Osteuropas, ohne vor allem unseren größten unmittelbaren Nachbarn, Polen, in diese Kooperation miteinzubeziehen. Hat Etienne François dies schon als Assistent und Professor in Nancy gewusst - der Stadt Stanislaw Leszczynskis? An der Notwendigkeit eines Weimarer Dreiecks, einer deutsch-französisch-polnischen Entente, hat er nie gezweifelt und ich bin froh darüber, dass wir als Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Genshagen gemeinsam dafür kämpfen durften. Mit polnischen Kollegen hat François die deutsche, französische und polnische Geschichtspolitik seit dem Umbruch 1989 miteinander verglichen; in dem 2007 zusammen mit Jörg Seyfarth herausgegebenen Band Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert hat er der Vision des Weimarer Dreiecks historische Tiefenschärfe verliehen.
Sieben Jahre lang, von 1979 bis 1986, war Etienne François Leiter der französischen Mission historique in Göttingen. Es folgten Professuren in Nancy, Stuttgart und Paris, bevor er nacheinander an die Frankreich-Zentren der Technischen und der Freien Universität Berlin berufen wurden. Über zwei deutsche Städte hat er eindrucksvolle Monographien geschrieben. 1982 erschien, basierend auf seiner thèse, das Buch Koblenz im 18. Jahrhundert. Dort zeichnete er mit Hilfe präzise ermittelter demographischer Daten nicht nur die „Sozial- und Bevölkerungsstruktur einer deutschen Residenzstadt“ nach, anhand der Alphabetisierungsquoten widerlegte er auch die Legende vom Bildungsrückstand der katholischen gegenüber der protestantischen Bevölkerung im Ancien Régime. 1991 publizierte er die große Studie Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806. Er war fasziniert von der einzigen deutschen Großstadt, in der die katholischen und die protestantischen „Konfessionsverwandtschaften“ gleich stark vertreten waren, offenkundig miteinander auskamen und doch durch eine unsichtbare Grenze voneinander getrennt blieben: für beide Seiten waren Mischehen ebenso Tabu wie ein Glaubenswechsel.
Für diese Arbeit erhielt Etienne François den „Prix Strasbourg“, das Motto „Vergleichen, um besser zu verstehen“ blieb Leitidee seiner wissenschaftlichen Forschung und seines wissenschaftspolitischen Engagements. Seine Publikationsliste umfasst mehr als 350 Einträge, etwa drei Viertel davon gelten deutsch-französischen Themen. Es gibt keinen Aspekt der deutsch-französischen Beziehungen zu dem Etienne François nicht publiziert hat, wobei seine Beiträge zum Kulturtransfer und zur Erinnerungskultur einen besonderen Platz einnehmen. In den drei, zusammen mit Hagen Schulze edierten Bänden Deutsche Erinnerungsorte hat er die Tradition der von Pierre Nora begründeten Forschung zu den „lieux de mémoire“ eindrucksvoll fortgesetzt. In seinen 2022 bei Gallimard erschienenen Memoiren Une étrange Obstination schrieb Pierre Nora, unter den zahlreichen „Nachahmern“ der ursprünglichen Lieux de Mémoire ragten die Deutschen Erinnerungsorte hervor. Die Bandbreite des Interesses von Etienne François zeigt sich in der nicht nur geographischen Entfernung zweier Erinnerungsorte, über die er selbst geschrieben hat: die Wartburg und Oberammergau. Seine kritische Empathie gilt historischen Epochen und Episoden, die für die darin Handelnden eine besondere moralische Herausforderung darstellen: Widerstand und Kollaboration, Krieg und Revolte. Hier vereint François besonders eindrucksvoll zwei Tugenden des Historikers, die ansonsten oft miteinander in Widerstreit liegen: Genauigkeit und Einfühlung.
2008 nahm Etienne François, wie er in seinem Curriculum Vitae schreibt, seinen „Départ en retraite“, der aber keinen Rückzug von der wissenschaftlichen Arbeit bedeutete: kurz darauf gab er, zusammen mit Thomas Serrier, einen Band zur europäischen Gedächtniskultur mit dem Titel Europa – Notre Histoire heraus (2019 auch auf Deutsch unter dem Titel „Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte“ erschienen), über 1300 Seiten, 109 Autoren, 149 Artikel - neun davon hat er selbst geschrieben - die Autoren stammen aus der ganzen Welt, von Vancouver bis Tokio, von Wien bis Kinshasa. Ein opus magnum – und eine Summa, die Etiennes historiographische Grundüberzeugungen widerspiegelt und noch einmal zusammenfasst. Marc Bloch und Fernand Braudel sind die maîtres à penser, an denen er sich mit seinem Vorhaben orientiert, die Vereinzelung der verschiedenen Nationalgeschichten hinter sich zu lassen und Weltgeschichte zu schreiben. Sein nachdrückliches Plädoyer, sich der Elemente einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur zu versichern, entspricht einer politischen Agenda: Eine europäische Zukunft wird sich nur auf der Grundlage eines europäischen Gedächtnisses bauen lassen. Im Prolog zu Europa – Notre Histoire spricht er davon welches Vergnügen ihm der Austausch mit seinen Autoren bereitete und welche Entdeckungen er dabei machen konnte – die „plaisirs de la découverte et de l’échange“ teilen sich auch dem Leser mit. Und es ist stets ein intellektuelles Vergnügen, zu sehen und zu hören, wie Etienne François auf Arte Aspekte der deutsch-französischen Geschichte erhellend kommentiert.
Wo auch immer er tätig war – Etienne François hat sich für die deutsch-französischen Beziehungen nicht wie ein Missionar engagiert, der andere zum wahren Glauben bekehren will sondern wie ein Skeptiker, der seine eigenen Überzeugungen immer wieder auf den Prüfstand stellt. Welche Berechtigung aber hat eigentlich seine Skepsis? Ist nicht tatsächlich aus den Deutschen und Franzosen, diesen ‘Promessi Sposi’, wie Annette Kolb es sich in den zwanziger Jahren erträumte, ein Traumpaar geworden? Muss man nicht die Skepsis beiseitelassen und darf pathetisch bleiben, wenn man daran erinnert, dass die deutsch-französische Freundschaft unseren Eltern bereits wie ein Wunder vorkam - und dass sie noch unseren Großeltern als ganz unmöglich erschienen wäre?
Die deutsch-französische Freundschaft gewann schnell eine charismatische Aura. Schon früh aber hat Etienne François nüchtern vorausgesagt, dass auch den Beziehungen unserer beiden Länder unweigerlich drohen wird, was Max Weber die „Veralltäglichung des Charismas“ nannte: Der Charme des deutsch-französischen Bilateralismus ergraute im Alltag der Routine. Seine Überinstitutionalisierung führte zu einer Ideenflucht, welche die "apparatshiks du franco-allemand" nicht wahrnehmen wollten, weil sie damit ihre eigene raison d'être gefährdeten. Zur Routine kam Erosion. Die mit so großen Hoffnungen verbundene Wahl Emmanuel Macrons hat daran nichts geändert – nicht zuletzt deshalb, weil der deutschen Politik die mutige Phantasie fehlte, auf die kühnen europäischen Zukunftsentwürfe des jungen französischen Präsidenten einzugehen.
Mit Etienne François habe ich vielfach zusammengearbeitet - besonders gerne erinnere ich mich an das Engagement für unseren Freund Stefan Amsterdamski und die Graduate School for Social Research an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. 1991 folgte Etienne François meiner Einladung und wurde Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Wir haben stets freundschaftlich miteinander kooperiert, aber wir haben unsere Zusammenarbeit nie unter Übereinstimmungszwang gesetzt. Unbewusst haben wir dabei manches Mal vielleicht an den Ratschlag Diderots gedacht:
»Sprecht Euch nicht miteinander aus, wenn Ihr Euch verstehen wollt!«
Ich will die Politesse von Etienne François preisen - und dafür noch einmal auf das Centre Marc Bloch und seine Entstehungs- und Gründungsgeschichte zurückkommen. Selten habe ich eine Institutionengründung miterlebt, die so sehr von Takt bestimmt wurde, dass es auf einmal schien, ‘understatement’ sei eine französische Vokabel.
Dem Takt der Institutionengründung entspricht ein Wesenszug von Etienne, den ich als Politesse bezeichne. Zu Recht erschrickt man, denn das Wort hat heute im Französischen, erst recht aber im Deutschen keinen guten Klang - wenn es überhaupt noch klingt, denn in einschlägigen Konversationslexika finde man unter ‘Politesse’ zunächst den Eintrag: „Angestellte zur Unterstützung der Polizei, die den ruhenden Verkehr überwacht“ und erst dann wird „Politesse“ durch vier Adjektive charakterisiert, die allesamt einen negativen Klang haben: feminin, unzeitgemäß, veraltet, französisch.
Nun mag das Wort veraltet sein, die Sache ist es nicht, jedenfalls sollte sie es nicht sein, erst recht nicht in Deutschland, wo ein aggressiver, sich zunehmend ins Rüpelhafte steigernder Verzicht auf Politesse von Politikern aller Couleur als demokratische Bodenständigkeit vermarktet wird. Ernest Renan war es, der beklagte, dass der Fortschritt der Demokratie bedauerlicherweise mit dem Verlust der Politesse erkauft wurde, weil man sie als Haltung des Ancien Régime missverstand: „Nos machines démocratiques excluent l’homme poli.“ Der Verfasser des Artikels ‘Politesse’ in der Grande Encyclopédie aber fährt fort, und ich möchte ihm recht geben:
»Pourtant, si la démocratie doit nécessairement détruire les institutions cérémonielles proprement dites et le respect de tous les protocoles, on ne voit pas qu’elle dispense de cette politesse plus simple mais plus essentielle...Une société fondée sur l’égalité a plus que tout autre besoin des vertus sociales, et la politesse n’est au fond que ‘l’expression ou l’imitation de ces vertus ...’.«
Die Demokratie bedarf - und sei es auf dem Wege des Imports - der Politesse, wie sie der Zedler, das deutsche Universallexikon aus frühaufklärerischer Zeit, auf die ebenso einleuchtende wie pragmatische Formel brachte, Politesse bestehe darin, zu meiden, was anderen zuwider sei und zu üben, was anderen angenehm sein möge.
Diese Politesse verkörpert Etienne François wie kein anderer. Nicht das Nie oder das Niemals, das Noch-Nicht bestimmt seine Haltung. Ich denke dabei noch einmal an den Kritiker, von dem man sagte: „Il pense avec politesse“, ich denke an Charles-Augustin Sainte-Beuve, von dem ein unvergleichlicher Satz überliefert ist, mit dem er auf eine scharfe, von seiner eigenen Auffassung abweichende Meinung reagierte: „Monsieur, je ne suis pas encore de votre avis!“ Die Haltung des pas encore hat eine alte, eine selbstbewusste Zivilisation zur Voraussetzung. In genau diesem Sinne repräsentiert Etienne in Situationen, die nicht das eindeutige Schwarz-Weiß prägt, den Mann des pas encore.
Zu danken ist Etienne François für seine Politesse, seine „Zuvorkommenheit des Geistes“ - eine Haltung, die er in der Politik der von ihm repräsentierten Institutionen ebenso gezeigt hat wie im persönlichen Umgang mit anderen - auch und gerade dann, wenn diese nicht immer einer Meinung mit ihm waren. Wir brauchen diese Politesse, und wir brauchen sie besonders dringlich in der deutschen Hauptstadt, in der es immer noch, Sainte-Beuve hatte recht, „barbarische Mazedonier“ gibt. Deshalb können wir uns umso mehr darüber freuen, dass er und seine Frau Beate in Berlin geblieben sind, und wenn er danach gefragt würde - und Etienne François ist gewiss danach gefragt worden -, wie um Himmels willen man Berlin Paris vorziehen könne, so wird er wohl mit der ihm eigenen Politesse geantwortet haben wie einst der Chevalier de Montbarey auf eine ganz ähnliche Frage:
»Warum sollte ich nicht bleiben? Die gute Gesellschaft hier ist wie überall, aber die schlechte ist ganz ausgezeichnet!.«
Im Namen aller Akademie-Mitglieder, im Namen des Verlags wbg und ganz besonders auch im Namen von Daniel Zimmermann gratuliere ich Ihnen zum 80. Geburtstag: Félicitations!