Unschuldsvermutung für starke Songs!

Am 14. März 2019 erschien bei wbg/THEISS mein neues Buch „Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en“. Was bei den Interviews rund um „Provokation!“ auffällt: Neben all den spannenden Fragen rund um die im Buch erwähnten Songs bitten mich gerade Radioleute immer wieder um Statements zu den Missbrauchsvorwürfen gegenüber Stars wie Michael Jackson und R. Kelly. Denn in vielen Redaktionen von Rundfunkhäusern wird heftig gestritten: Darf man jetzt, da die Missbrauchsvorwürfe immer stichhaltiger untermauert werden, Songs von Michael Jackson oder R. Kelly noch im Radio spielen?

So nachvollziehbar die Frage im Rundfunkkontext ist, so verwundert war ich anfangs darüber, dass man sie ausgerechnet mir stellte – im Zusammenhang mit kontroversen Songs. Natürlich, Michael Jackson ist in meinem Buch mit dem Groove-Klassiker „Thriller“ vertreten, aber in erster Linie wegen des damals bahnbrechenden Horrorvideos, das John Landis dazu produziert hatte und das so provozierend furchterregend war, dass es erst zur Geisterstunde im Fernsehen gezeigt werden durfte. Ansonsten wurden Michael Jackson und auch R. Kelly im Lauf ihrer Karrieren eher weniger für kontroverse Songbotschaften gefeiert. Die Missbrauchsvorwürfe betreffen ausschließlich das Privatleben der Künstler und wurden zum Teil erst nach ihren größten Erfolgen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.     

In den zeitlich knapp bemessenen Interviews lautet meine Antwort mit Blick auf den „King of Pop“ meist: Ja, man darf Jackson-Songs noch im Radio spielen. Denn erstens sind sie Inszenierungen und haben thematisch nichts mit den möglichen privaten Abgründen des Künstlers zu tun, zweitens sind sie in vielen Fällen herausragende, einzigartige Werke der Popmusik, und drittens sind sie seit Jahrzehnten unauslöschlich in den Köpfen unzähliger Fans weltweit verankert – da bekommt man sie auch nicht mehr heraus. Viertens: Jackson hat diese Werke nicht allein produziert, er ist vor allem das Aushängeschild, die Stimme, die Marke. Die Erfolge gehen auch auf die Leistung von Ausnahmeproduzenten wie Quincy Jones, von begnadeten Studiomusikerinnen und -musikern, von Choreographen, Designern, Promotern zurück. Michael Jackson zur Strafe für seine privaten Verfehlungen aus dem Radio und den Medien zu verbannen, hieße, etliche „unschuldige“ Künstler mitzubestrafen.

Schnell stellte ich jedoch fest, dass das Thema sehr wohl mit meinem neuen Buch zu tun hat. Erst mal indirekt, weil einige der darin vorgestellten Songprovokationen auf das Konto von exzessiven Künstleregos gehen, die sich, nun ja, nicht gerade anständig ihren Mitmenschen gegenüber verhalten haben. Ich denke da etwa an Malcolm McLaren, den ebenso exzentrischen wie profitorientierten Macher der Sex Pistols, der seine „Schützlinge“ ganz gezielt von einem Desaster ins nächste schickte und tatenlos zusah, wie etwa Bassist Sid Vicious zugrunde ging – auch eine Form von Missbrauch. Sogar als ästhetisches Konzept. Vicious wiederum wurde des Mordes an seiner Freundin Nancy Spungen verdächtigt, starb aber 1979 vor der Aufklärung des Falls an einer Überdosis Heroin. Die Sex Pistols sind heute trotz oder gerade wegen dieser Abgründe Kult, ja ein Mythos – niemand käme auf die Idee, sie und ihre Musik aus den Medien zu verbannen.

 

Und ganz direkt hat „Provokation!“ mit der Frage „Darf man solche Songs noch spielen?“ zu tun, wenn ich angesichts eines Titels des ehemaligen Sektenführers Charles Manson, der 1969 aufgrund einer selbst ersonnenen bizarren Verschwörungstheorie sechs seiner Anhänger zu insgesamt sieben bestialischen Morden angestachelt hatte, zu folgendem Urteil komme: „Allein die Vorstellung, eins der Mordopfer wäre Teil meiner eigenen Familie gewesen, hält mich davon ab, auch nur einen weiteren Song des für die Morde Verantwortlichen anzuhören, geschweige denn zu mögen.“

Wie jetzt? Manson nicht mehr hören wollen, aber Michael Jackson soll noch im Radio laufen dürfen – ist das nicht ein Widerspruch? Ich denke Nein. Im Buch kommt Mansons Song „Look At Your Game, Girl“ deshalb ins Spiel, weil er 1993 von Guns n’ Roses gecovert und, Provokation!, auf dem Album „,The Spaghetti Incident?’“ als sogenannter „hidden track“ veröffentlicht worden war. Damals liefen etwa Opferverbände gegen die Skandalrocker um Frontmann Axl Rose Sturm. Ich rufe im Buch mitnichten dazu auf, Manson nicht mehr im Radio zu spielen, habe aber auch nichts dagegen, wenn er weiterhin nicht gespielt wird. Denn Manson war lediglich ein mittelmäßiger Songwriter, der auch in der Zeit vor den Morden nichts Relevantes produziert hat. Zudem hatte er sich für seine kranke Ideologie ausgerechnet von Beatles-Songs „inspirieren“ lassen, also fremde Werke wahrer Songkünstler aufs Furchtbarste instrumentalisiert. Und schließlich sollten die Verkaufserlöse aus dem Manson-Album „Lie: The Love and Terror Cult“, auf dem das Original von „Look At Your Game, Girl“ enthalten ist, helfen, die Verteidigung im Mordprozess zu bezahlen. Unappetitlich! Nein, da ist nichts, was für einen Manson-Song im Radio spricht.

Jackson, Sex Pistols, Manson – die Beispiele zeigen, dass jeder Fall seine eigene Dynamik hat. Und dass die öffentliche Meinung nicht immer konsequent, geschweige denn schlüssig ist. Schauen wir uns weitere Fälle an. Phil Spector, als Songwriter und Produzent an einigen der größten Hits der 60er und 70er Jahre beteiligt, unter anderem von Ike & Tina Turner, The Ronettes, den Righteous Brother und den Beatles, sitzt seit 2009 eine 19-jährige Haftstrafe wegen Mordes an der Schauspielerin Lana Clarkson ab. Dass jemand verlangt hätte, die Hits des über Jahrzehnte hinweg durch psychotisches Verhalten und misogyne Züge aufgefallenen Künstlers im Rundfunk zu boykottieren, ist nicht bekannt. Liegt es daran, dass Spector seine großen Erfolge zeitlich lange vor dem Mord hatte? Oder daran, dass er eher im Hintergrund tätig war und nicht selbst im Rampenlicht stand? Letzteres wiederum tat Gary Glitter, der Teenie-Glamrock-Star aus den 70ern – heute ein verurteilter Sexualstraftäter, hinter Gittern auch wegen Kindesmissbrauchs. Ihn jedoch scheint sowieso niemand mehr hören zu wollen, da braucht auch kaum jemand nach Verboten rufen.

Der britische Songwriter Yussuf Islam wiederum, besser bekannt als Cat Stevens, war nach sanften Megahits wie „Peace Train“ und „Morning Has Broken“ zum Islam konvertiert und hatte sich 1989 widersprüchlich, doch letztlich zustimmend zur Fatwa gegen den Autor Salman Rushdie geäußert. Damals wurde er heftig kritisiert, Kollegen und Kolleginnen distanzierten sich von ihm, viele Sender spielten seine Songs nicht mehr – ähnliche Diskussion wie aktuell die um Michael Jackson. Inzwischen aber scheint einfach Gras über die Sache gewachsen sein. Cat Stevens wird gespielt und auch wieder gecovert, der Künstler selbst, nach wie vor Moslem, engagiert sich in Charity-Projekten und tourt als „Yusuf“ sogar mit den alten Hits. Womöglich sind auch diese Klassiker einfach nicht aus den Köpfen zu bekommen.

Mit Xavier Naidoo schließlich offenbarte ab etwa 2011 Deutschlands erfolgreichster Soulpopper verstörende Seiten. In seine Songtexte mischten sich plötzlich Verschwörungstheorien, antisemitisch anmutende Sprachbilder und an Pegida erinnernder Jargon, außerdem trat er 2014 als Redner bei einer Kundgebung der umstrittenen Reichsbürger auf. Zwar zog der NDR 2015 die Nominierung Naidoos für den European Song Contest zurück, und die besorgte Stadt Mannheim lud ihn 2017 zu einem klärenden Gespräch, doch auf Naidoos Präsenz in den Radioprogrammen der Republik hatte all das keinen nennenswerten Einfluss. Der Künstler bekräftigte stets, missverstanden worden zu sein, zurzeit sitzt er bestens gelaunt in der Jury der Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“. Spektakulär auch, dass man für die harte TV-Serie „4 Blocks“ Gangsta-Rapper, zum Teil mit kriminellem Hintergrund, vor die Kamera holt und euphorisch feiert – die schweren Jungs wirken einfach cool und sorgen für den nervenkitzligen Schuss Authentizität. Obendrein erhalten sie kostenlose Werbung für ihre kontroverse Musik.

Was ist es dann, das die Öffentlichkeit gerade gegen Michael Jackson und R. Kelly so aufbringt? Vor allem wohl das Missbrauchsthema, die sexuelle Gewalt gegen Kinder, gegen wehrlose Mädchen und Frauen. Ein Vergehen, das offenbar als besonders widerlich empfunden wird, selbst im Vergleich mit Gewalttaten wie Mord. Hinzu kommt eine Fallhöhe, die beispielsweise bei Gary Glitter nicht mehr gegeben ist: Je strahlender der Star, desto tiefer muss er fallen. Zu guter Letzt ist es die Tatsache, dass sich die nun publik gewordenen Missbrauchsfälle um Jackson und Kelly zur Zeit ihrer großen Erfolge ereignet hatten. Nicht wenige Fans fühlen sich schändlich belogen, betrogen, hintergangen. Sie schämen sich, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen in überlebensgroße „saubere“ Stars projiziert zu haben, während diese im Verborgenen ihre niedersten Triebe auslebten. Umso härter sollen sie büßen.

Noch ein Gedanke: Künstlern gegenüber kann die Öffentlichkeit Macht ausüben und wirklich etwas bewirken. Die „SPIEGEL“-Headline anlässlich des Missbrauchsskandals um einen berühmten Hollywoodschauspieler ist grausam wie bezeichnend: „Die Auslöschung des Kevin Spacey“. Vielleicht dienen solche Auslöschungsfantasien auch als Ventil für die Ohnmacht, die viele Menschen ansonsten im Alltag erleben – angesichts einer erbarmungslosen Globalisierung, windiger Großkonzerne und rücksichtsloser Spitzenpolitiker, die lügen, betrügen, hemmungslos ihrem Ego frönen, die Medien unterdrücken und Kritiker einsperren, also ihre Position, ihr Amt missbrauchen, ohne in irgendeiner Weise dafür belangt zu werden.

Dabei macht ein Radioboykott von Songs die Missetaten ihrer Urheber nicht ungeschehen. Sofern die Hits selbst keinen Straftatbestand erfüllen, etwa durch eindeutige „hate speech“, sind sie Kunstwerke, die sich längst von ihren Produzenten gelöst und im kollektiven Gedächtnis eingenistet haben. Und jeder Fan projiziert etwas anderes in sie hinein. Ich appelliere an ein mündiges Publikum, das für starke Songs die Unschuldsvermutung gelten lässt; das Michael-Jackson-Songs genießen und die Missbrauchsvergehen des Superstars davon trennen kann; das die wahren Hardrockperlen eines Ted Nugent aus den Siebzigerjahren schätzt und trotzdem kritisch reflektiert, dass dieser einst gefeierte US-Superstar heute ein bekennender Rechtsextremist ist. In Literatur, Film oder Malerei gibt es weitere Beispiele für „böse“ Menschen, die „gute“ Kunst hervorgebracht haben.

„Müssen wir die bewusst mit sexistischen, homophoben, antisemitischen Haltungen kokettierenden Tiraden selbst ernannter Gangsta-Rapper aushalten?“ Das ist noch eine Frage, die mir in Interviews öfter begegnet. „Ja“, sage ich, „und wir sollten sie nur im Fall eines echten Straftatbestands verbieten. Wichtig ist, sie im Rahmen einer Wertedebatte zu diskutieren.“ Genauso müssen wir aushalten, dass hinter herausragender Kunst eine kriminelle Persönlichkeit stecken kann. So wie wir unsere widersprüchlichen Wertmaßstäbe kritisch hinterfragen und die Existenz von menschlichen Abgründen akzeptieren müssen, wobei die Grenzen zwischen Gut und Böse fließend sind. Werden wir bald auch Künstler boykottieren wollen, weil sie sich in einer Bar danebenbenehmen oder ihren Müll falsch trennen? Das Thema bleibt schwierig. Noch ein ergänzender Lösungsvorschlag: Was, wenn – durch die Künstler selbst, ihren Nachlass oder externe Instanzen – Wege gefunden werden, einen Teil der Tantiemen und Einnahmen aus Songs umstrittener Künstler in Projekte zur Unterstützung von Opfern fließen zu lassen? Nur so ein Gedanke ...  

 

Michael Behrendt arbeitet freiberuflich als Lektor und Autor für Verlage, Unternehmen und Agenturen.

Nach seiner Magisterarbeit über Patti Smith promovierte er über englische und amerikanische Rocklyrik. Er war Frankfurter Redaktionsleiter der bundesweit aufgestellten Lifestyle-Illustrierten "Prinz" und später Chefredakteur des Stadtmagazins "Journal Frankfurt".

 

 

 

 

Songs sind ein Spiegel der Gesellschaft, Songs stoßen Debatten an. »Provokation!« versammelt rund 70 Hits der vergangenen 100 Jahre, die aufrüttelten, empörten und verstörten - von Künstlern wie Boris Vian und Bill Haley, Bob Dylan und den Doors, Alice Cooper, Marilyn Manson und den Sex Pistols, Public Enemy und Bushido, Prince, Kollegah und Farid Bang. Dazu Antworten auf die Fragen: Wie funktionieren diese musikalischen Tabubrüchen? Was machen sie mit uns und wie sollten wir damit umgehen? Und: Wann ist die Grenze zum »hate song« überschritten?

 

 

Tags: Musik, Songs
Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein.

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Informationen zum Umgang mit personenbezogenen Daten finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.