Die Deutsch-Bosnierin Mirsada Simchen-Kahrimanović und ihr Einsatz für Frieden auf dem Balkan
wbg-Lektor Daniel Zimmermann spricht im Interview mit Mirsada Simchen-Kahrimanović, die in ihrem Buch »Lauf, Mädchen, lauf!« ihr sehr persönliches und emotionales Memoir verschriftlicht hat. Eine Lebensgeschichte, die durch ihre Standhaftigkeit Mut macht, und ein Buch, das den vergessenen Krieg auf dem Balkan wieder in das öffentliche Bewusstsein rückt.
Daniel Zimmermann: Liebe Mirsada, vor einem halben Jahr ist der autobiographische Bericht von Deinen Erlebnissen aus dem Bosnienkrieg von 1992 und Deiner Flucht nach Deutschland erschienen. Was hat sich durch dieses Öffentlich machen, wie hat sich Dein persönliches Leben seitdem verändert?
Mirsada Simchen-Kahrimanović: Zu meinem Alltag gehört seitdem „Lauf, Mädchen, lauf“, im übertragenen wie im konkreten Sinn: Ich bin sehr gut ausgelastet mit Anfragen rund um das Buch, aber die Zeit zum Laufen nehme ich mir noch immer, das ist meine Therapie. Trotz der Mehrarbeit durch das Buch habe ich das Gefühl, dass mit jedem Schritt, den ich durch das Buch zum Frieden auf dem Balkan beitrage, eine Heilung auch in meinem Körper stattfindet.
Daniel Zimmermann: Du hast seitdem sehr viele öffentliche Veranstaltungen absolviert, v.a. auch sehr viele Schulen besucht, und von dem EUROPÄISCHEN Bürgerkrieg vor 30 Jahren erzählt. Wie haben die Zuhörer, wie die Schülerinnen und Schüler reagierten?
Mirsada Simchen-Kahrimanović: Ich werde in keiner Minute müde, die Jugendlichen zu ermutigen, für ein friedliches Miteinander, für Integration und vor allem für Toleranz einzutreten. In diesem Sinne bin ich gerne die Stimme des Krieges und des Völkermordes in Bosnien ab 1992. „Die Wahrheit wird durch Bildung geschützt“ – dieses Konzept kann man sehr gut den jungen Schülerinnen und Schülern ab der Klasse 9 nah bringen.
In der Regel ist der Wertedialog für zwei Schulstunden geplant. Die Schülerinnen und Schüler erwarten meistens eine alte Frau als Zeitzeugin. Dann aber komme eben ich als 40-jährige Zeitzeugin. Es macht mich noch immer sehr betroffen, dass dieser jüngste Krieg in Europa kaum bekannt ist, kaum Anerkennung in der Gesellschaft gefunden hat, und so könnte man es den Jugendlichen in diesem Alter kaum übelnehmen, wenn Sie während meiner Veranstaltung ihre Social-Media-Kanäle pflegen würden. Aber nein, im Gegenteil, die Schüler opfern immer wieder ihre Pausen, um mit in den Dialog einzutreten.
Sie möchten gerne anhand eines gewaltsamen Ereignisses, welches nicht so weit von Ihrem Geburtsjahr entfernt ist, etwas lernen. Sie berichten, dass sie aus der Vergangenheit einfacher lernen können, wenn es vor nur dreißig Jahre passiert ist, als wenn es sich, bspw., um den Ersten oder Zweiten Weltkrieg handelt.
Das Resümee ist, dass sich die Jugendlichen immer wieder in meinem Buch selbst finden. Das Buch gibt ihnen Stoff zum Nachdenken und einen Gesprächsanlass, um über die Themen Flucht, Vertreibung, Menschenrechte und ihre aktuellen Sorgen zu diskutieren, auch vor dem Hintergrund des aktuellen Ukrainekrieges. Zugleich versuche ich, die jungen Menschen dazu zu bewegen, über ihre persönliche Haltung in diesem Zusammenhang nachzudenken, um so Rassismus und Rechtsextremismus vorzubeugen.
Wenn man authentisch ist vor einer Klasse, dann können Sachverhalte, wie etwa Krieg und Flucht, verstanden und reflektiert werden, was dazu beiträgt, Vorurteile abzubauen und Demokratie zu stärken. Wir brauchen das!
Für die meisten Schülerinnen und Schüler ist es die erste Autorenlesung überhaupt, die sie erleben: Veranstaltung von Mirsada Simchen-Kahrimanović in der Mildred Scheel Schule in Böblingen.
Daniel Zimmermann: Du besuchst aber nicht nur Schulen und Bildungseinrichtungen, sondern willst das Thema des zerrissenen Balkans auch breiter in die deutsche Gesellschaft und Politik tragen.
Mirsada Simchen-Kahrimanović: Die positiven Erfahrungen aus meinen Veranstaltungen und Vorträgen treiben mich an, jeden Tag den Kontakt mit Kultusministerien und Landezentralen für politische Bildung zu suchen und herausfordernde Gespräche mit Politikern zu führen.
Mein Ziel ist es, in meiner neuen Heimat, in meinem Deutschland eine friedliche, eine solidarische Gesellschaft zu fördern, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie zu stärken. Deshalb fordere ich, dass die Lehren aus dem Bosnienkrieg und des Genozids auf dem Balkan Eingang finden in die Lehrpläne, wünsche ich mir als Bildungsziel auch Unterricht zu Frieden und zu Toleranz. Die Wissensvermittlung soll politische Verantwortlichkeit und freiheitliche demokratische Gesinnung verankern, so, wie es in Artikel 12 der Landesverfassung von Baden-Württemberg und in den Verfassungen von 15 weiteren Bundesländern definiert ist.
Ich möchte, dass den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eines Unterrichts gegeben wird, in dem ausreichend Raum für Demokratiebildung vorgesehen ist. Die Schüler aus dem Bundesland Sachsen beispielsweise sind sehr besorgt; sie berichteten mir, dass nur ein Land zwischen ihnen und Russland liegt. Diese Sorgen um Frieden können aufgefangen werden von jemanden, der einen Krieg erlebt und überlebt hat, um den jungen Menschen Sicherheit zu bieten.
Was meine Arbeit sehr bereichert ist, dass ich durch meine Erfahrungen und meinen Wertedialog den jungen Menschen sehr gut aus der Zeit erzählen kann, als ich mich neu in Deutschland integrieren musste. Das bewegt die Schülerinnen und Schüler immer sehr und sie begegnen den ukrainischen Flüchtlingen mit einem neuen Blick.
Und so baten mich ein ukrainisches Mädchen um Rat und stellte mir die Frage, warum ihre Mitschülerinnen von ihr keine Süßigkeiten annehmen. Das Mädchen möchte einfach mit ihren 17 Jahren zu der Schulcliquen gehören. Wenn man dann die unterschiedlichen kulturellen Prägungen erklärt ist schon viel geholfen, und dann folgt zum Abschluss mein Appel an die Schülerinnen und Schüler: „Reicht Euch die Hände! Steht beieinander!“ - niemand flüchtet freiwillig und verlässt grundlos seine Heimat.
Daniel Zimmermann: Auf dem Balkan gibt es nach wie vor politische, nationalistisch angeheizte Spannungen. Du bist oft in Deiner alten Heimat in Bosnien. Wie erlebst Du die politische Situation dort?
Mirsada Simchen-Kahrimanović: Die politische Situation auf dem Balkan erlebe ich als eine sich stetig verschlechternde, die geprägt ist von einem subtilen, aber stetigen Wiedererstarken nationalistischer Tendenzen. Im Übrigen wird diese Destabilisierung auch dadurch verstärkt, dass sogar einzelne Länder, die Teil der EU sind, in populistischer Weise rassistische und nationalistische Ressentiments bedienen, diese Haltung also innerhalb der EU zumindest geduldet werden. Diese Passivität der EU wirkt als verdeckte Legitimation dieser Ideologie auf den Westbalkan, getreu dem Motto: Wenn beispielsweise Ungarn damit durchkommt, dann machen wir das auch. Politiker in Bosnien spielen teilweise auf einer ganz ähnlichen Klaviatur der Intoleranz. In Bosnien wurde ein hochkomplexes politisches System geschaffen, welches die wenigsten verstehen, selbst in Bosnien nicht. Die daraus resultierende politische Ohnmacht sowie schlechte Wirtschaftsentwicklung, fehlende Reformen, Korruption und Vetternwirtschaft führen dazu, dass die besten Talente das Land verlassen. Was aber ist die Zukunft eines Staates, der seinen besten Nachwuchs systematisch verliert?
Über das Buch »Lauf, Mädchen, lauf!«
1992: Der Krieg auf dem Balkan erschüttert Europa. Beim Angriff auf ihr bosnisches Dorf wird Mirsadas Vater ermordet, sie selbst mit Mutter und Schwester in Trnopolje inhaftiert, wo sie sexuellen Missbrauch durch serbische Soldaten erlebt. 30 Jahre nach dem Krieg schreibt sie ein Erinnerungsbuch: ein berührendes Plädoyer für Toleranz und gegen Gewalt.
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Zu den Beteiligten
Mirsada Simchen-Kahrimanović wurde 1979 in Kozaruša bei Prijedor in Bosnien-Herzegowina geboren. Im Alter von 13 Jahren brach der Jugoslawienkrieg aus, ihr Vater wurde ermordet, und sie selbst kam in ein serbisches Gefangenenlager. Ihr gelang die Flucht nach Deutschland. Mit bewundernswertem, größtem Engagement tritt sie dafür ein, dass dieser Krieg wieder in das öffentliche Bewusstsein rückt.
Daniel Zimmermann lebt in Mainz und ist Programmmanager im wbg-Lektorat Geschichte. Dort ist er zuständig für die Programme wbg Theiss, wbg Edition, wbg Academic und wbg Zabern.