Gottfried Keller (1819-1890) gilt neben Fontane und Storm als wichtigster Repräsentant des deutschsprachigen Realismus. Geprägt von Tradition und Kultur seiner Heimatstadt Zürich sowie den Ideen des eidgenössischen Liberalismus, entwickelte er ein eigentümliches Ideal von Bürgerlichkeit. Gleichwohl blieb Keller als Schriftsteller und Zeitkritiker ein gesellschaftlicher Außenseiter, der in seinen Werken auch die Abgründe der bürgerlichen Existenz aufdeckte. Ulrich Kittstein schildert Kellers Persönlichkeit und Werdegang, seine weltanschauliche und politische Haltung und seine Poetik.
Vielen ist sein Name noch aus der Schule bekannt, wo Erzählungen wie ›Kleider machen Leute‹ und ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹ nach wie vor ein beliebter Unterrichtsstoff in der Mittelstufe sind. Den literarisch Gebildeten dürfte auch der Roman ›Der grüne Heinrich‹ vertraut sein, und manche Tierliebhaber wissen das schöne Märchen ›Spiegel, das Kätzchen‹ zu schätzen. Aber sonst? Die meisten Werke, die Gottfried Keller, der 1819 in Zürich zur Welt kam, im Laufe seines siebzigjährigen Lebens geschrieben hat, kennen heute fast nur noch die Spezialisten der Literaturgeschichte. Die heiter-nachdenklichen ›Sieben Legenden‹ zum Beispiel, die das Jenseitsverlangen des gläubigen Christen durch handfeste irdische Freuden ersetzen, den Novellenzyklus ›Das Sinngedicht‹, in dem zwei Partner sich ein funkensprühendes Erzählduell um das rechte Verhältnis zwischen den Geschlechtern liefern, oder den zweiten Roman ›Martin Salander‹, ganz zu schweigen von Kellers umfangreicher lyrischer Produktion. Aber vielleicht wird das eben begonnene Jubiläumsjahr für einige Literaturfreunde zum Anlass, einen Autor wiederzuentdecken, den man mit allem Recht einen »poetischen Realisten« nennt. Es würde sich jedenfalls lohnen.
Wenn Keller ein Lebensthema hatte, dann war es die Bürgerlichkeit, das humane Ethos einer erfüllten, rundum gelingenden bürgerlichen Existenz. Arbeitsfleiß und anständiger Er-werb gehörten dazu, Liebe, Ehe und die Gründung einer Familie, aber auch politisches Bewusstsein und staatsbürgerliche Verantwortung – verständlich in der republikanischen Schweiz, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts soeben ihre moderne und in den Hauptpunkten bis heute bewahrte Verfassung gab. Wäre Keller aber nichts weiter als ein wortgewandter Lobredner bürgerlicher Tugenden und bürgerlicher Ideologie gewesen, müsste man heute kein Wort mehr über ihn verlieren. Dass er weit mehr war, ahnt man bereits, wenn man sich seinen Lebensweg vor Augen führt, denn der hatte lange Zeit herzlich wenig mit dem idealen Karrieremuster eines soliden Bürgers gemein. Bis in sein zweiundvierzigstes Lebensjahr führte Keller in Zürich und zwischendurch auch in Heidelberg und Berlin die verantwortungslose Existenz eines träumerischen Müßiggängers, tat nach außen hin wenig oder gar nichts und ließ sich von seiner Mutter und seiner Schwester ernähren. Ein gutes Gewissen hatte er freilich nicht dabei; die Angst, sein Dasein zu verpfuschen und als Tunichtgut zu enden, begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Deshalb griff er begierig zu, als seine Kantonsregierung ihn 1861 ganz unerwartet zum Ersten Staatsschreiber von Zürich wählte und ihm damit einen gutdotierten, einflussreichen Beamtenposten verschaffte, den er fortan zur Ver-blüffung aller Skeptiker fünfzehn Jahre lang mit der größten Gewissenhaftigkeit ausfüllte. Eine späte, fast gewaltsame Selbstdisziplinierung also, die ihm auch nachher noch zugutekam, als er das zeitraubende Amt niederlegte und sich der freien Schriftstellerei widmete.
Als Staatsbeamter und als Dichter mit wachsendem Renommee schien Keller in der bürgerlichen Gesellschaft angekommen zu sein. Ein Außenseiter blieb er aber trotzdem: als alternder Junggeselle, als grämlicher, wortkarger Einzelgänger und passionierter Wirtshausbesucher und nicht zuletzt als scharfsichtiger Zeitkritiker, der sich die Fortschrittszuversicht seiner eidgenössischen Mitbürger nicht recht zu eigen machen wollte. Und so sehr seine Werke auch immer wieder die bürgerlichen Werte hochhalten – die Hauptrollen spielen hier nicht die angepassten Musterknaben, sondern Träumer und Phantasten wie der grüne Heinrich, der Ritter Zendelwald, Pankraz, der Schmoller, oder der wandernde Schneidergeselle Wenzel Strapinski aus ›Kleider machen Leute‹. Manchmal werden sie am Ende zur soliden Bürgerlichkeit bekehrt, manchmal auch nicht, was dann ein schmähliches Scheitern in Elend und Einsamkeit bedeutet, aber jedenfalls gehört ihnen und nur ihnen die geheime Sympathie des Autors. Denn Keller kannte den Reiz der Ungebundenheit und der freischweifenden Phantasie ebenso gut wie den Preis, den die bürgerliche Arrivierung fordert, die Gewalt, die der Einzelne sich antun muss, wenn er fleißig und strebsam sein, ordentlich und ehrbar leben will. Lange vor Sigmund Freud wusste er Bescheid über Verdrängungsprozesse, über die Macht des Unbewussten und die unheimlich-lockende Wiederkehr des Verdrängten. In der Geschichte von der kleinen Meret im ›Grünen Heinrich‹ hat er drastisch davon erzählt, wie die humane Sinnennatur durch gesellschaftlichen Zwang unterdrückt werden kann, und das Gedicht ›Winternacht‹ inszeniert die innere Zerrissenheit des modernen Menschen in eindrucksvollen phantastischen Bildern. Das strahlende Leitbild der Bürgerlichkeit wirft bei Keller häufig dunkle Schatten.
Und obwohl er den Weg der Eidgenossenschaft zu einer liberalen, freiheitlichen Demokratie mit Enthusiasmus verfolgte, besaß er auch auf dem Gebiet der Politik und des sozialen Lebens einen unbestechlichen, skeptischen Realitätssinn. Frühzeitig hegte er Zweifel, ob die bürgerliche Gesellschaft ihr großes Versprechen von Freiheit, Gleichheit, allgemeinem Wohlstand und staatsbürgerlicher Solidarität überhaupt einlösen könne, wenn sie doch unausweichlich die Gestalt einer kapitalistischen Klassenordnung mit allen ihren Ungerechtigkeiten und Konflikten annehme. In Zeitungsartikeln prangerte er den Materialismus und Egoismus seiner Zeitgenossen an, attackierte das Skandalon der Kinderarbeit in der prosperierenden Industrie und forderte nachdrücklich eine angemessene Sozialgesetzgebung. Zeitkritik und Pessimismus gipfelten schließlich in ›Martin Salander‹, dem lange vernachlässigten, grob unterschätzten Spätwerk, dessen düsteres Bild der modernen Lebenswelt heute wieder erstaunlich aktuell anmutet.
Vieles gäbe es noch zu sagen, zum Beispiel über Kellers Beschäftigung mit der Philosophie Ludwig Feuerbachs, die ihn dazu bewog, den christlichen Unsterblichkeitsglauben aufzugeben und stattdessen alle Sinne und Gedanken auf das irdische Leben zu richten, oder auch über seinen Umgang mit den Geschlechterrollen, der voll ist von fesselnden Widersprüchen, schwankend zwischen typischen männlichen Wunschprojektionen und deren ironischer Auflösung. Doch was jenseits aller einzelnen Themen und Motive an Kellers Werk fasziniert, ist eben das eigentlich Poetische – der ungemein farbige, plastische Stil seines Erzählens, die meisterhafte Sprachbeherrschung, die sämtliche Register von der romantischen Gefühlsinnigkeit bis zur grotesken Satire zu ziehen weiß, und nicht zuletzt seine Gabe, mit wenigen Strichen die einprägsamsten Szenen und Gestalten zu schaffen. Er führt seine Leserschaft manchmal in poetische Märchenwelten, um sie dann urplötzlich wieder mit Erfahrungen zu konfrontieren, die geradewegs aus unserer heutigen Lebenswelt gegriffen sein könnten; er regt zum Phantasieren, zum Nachdenken und oft genug auch zum Lachen an. Vor allem aber verschaffen seine Werke denen, die sich auf sie einlassen, auf jeder Seite den Genuss einer unvergleichlichen Erzählkunst.
Ulrich Kittstein ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Für seine Habilitation wurde er 2006 mit dem Preis der Universität Mannheim für Sprache und Wissenschaft ausgezeichnet. Sein Arbeitsgebiet ist die deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart mit den Schwerpunkten Lyrik, historisches Erzählen, Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Gottfried Keller und Bertolt Brecht.
Gottfried Keller (1819-1890) gilt neben Fontane und Storm als wichtigster Repräsentant des deutschsprachigen Realismus. Geprägt von Tradition und Kultur seiner Heimatstadt Zürich sowie den Ideen des eidgenössischen Liberalismus, entwickelte er ein eigentümliches Ideal von Bürgerlichkeit. Gleichwohl blieb Keller als Schriftsteller und Zeitkritiker ein gesellschaftlicher Außenseiter, der in seinen Werken auch die Abgründe der bürgerlichen Existenz aufdeckte. Ulrich Kittstein schildert Kellers Persönlichkeit und Werdegang, seine weltanschauliche und politische Haltung und seine Poetik. Ausführlich behandelt werden »Der grüne Heinrich«, »Martin Salander« und »Die Leute von Seldwyla«. So entsteht zum Jubiläumsjahr 2019 das vielschichtige Porträt eines Autors, der mit seiner virtuosen Erzählkunst und seinem psychologischen Scharfsinn bis heute eine ungebrochene Faszination ausstrahlt.